Sonntagsarabesken #9

Ein Fremder. – sagt sie, mit kurzem Blick herüber, und lächelt. Tatsächlich. Ein Fremder. Es ist die Wahrheit, gesteht sich der abendliche Besucher später im kalten Wind auf der Gasse ein, wir sind uns fremd geworden. Er macht einige zaghafte Schritte, obwohl er es eigentlich eilig haben müßte, denn er hat noch eine Verabredung im Theater. Eine Verabredung mit der Ewigkeit, denkt er (ein wenig pathetisch, aber so ist er eben). Er würde wieder sehen und hören, womit es damals für ihn begonnen hatte. Eine Art der Rückkehr an den Anfang, deren Sinn und Wirkung er freilich im Vorhinein nicht abzuschätzen weiß. Er fühlt sich schlecht, körperlich verwundet durch ihren oberflächlich schweifenden Blick, der nur allzu angebracht gewesen war. Sie verhält sich in jeder Situation richtig, einfach verdammt richtig, sagt er leise vor sich hin; es gibt keine Spur von Hektik oder Verzweiflung in ihren Gesten, nur eine in Wellen wiederkehrende Müdigkeit, deren gesetzte Schönheit ihn regelmäßig um den Verstand gebracht hatte (früher, vor Anbruch des Herbstes, noch bevor die blutroten Laubhaufen die Straßen säumten). Erscheinungen, deren Unwirklichkeit und Schemenhaftigkeit er bereits erkannt hat, kehren jetzt wieder, zwischen zwei Schritten. Die Trauer schlägt frostige Krallen in sein Genick. Eisblumen bedecken den neuen Grabstein seiner Liebe. Noch ein Schritt, noch einer. Stufen hinauf, in die Wärme einer behüteten Traumwelt. Die Musiker stimmen ihre Instrumente, und das dissonante Zirpen schraubt sich durch die Logenwände bis in die Eingeweide des alten Hauses. Er stolpert den Treppenabsatz entlang. Vor seinen Augen: Schwindelkaskaden. Goldene Feuerschweife formen sich zu Worten in unbekannter Sprache, die doch nur eines meinen: Verzweiflung. Er spürt die sauren Tränen auf der Zunge, bevor sie ihm noch in die Augenwinkel schießen. Ein Fremder. Diese zwei Worte geistern durch sein fiebrig nervöses Gehirn, sie lassen ihn nicht los, obwohl er doch schon alles losgelassen geglaubt hatte. Wie das Auseinanderbrechen eines Kontinents kommt ihm alles vor, obwohl das nicht ganz richtig ist: Nichts ist auseinander gebrochen, weil nichts da war, außer in seiner Einbildung, und allein diese Einbildung war schon zuviel. Zuviel der Hoffnung, der Träume, der Wunschbilder. Fremd sind sie einander. Jetzt. Und vielleicht ist es besser so.