Sonntagsarabesken #29

Sie saß auf der Uferböschung und blickte hinaus über den Fluß, weit hinein in die Eingeweide der Stadt; Nervenstränge, Blutgefäße, Knochen und Organe, nach außen geklappt, quollen ihr förmlich entgegen, die fleckigen Fassaden, die aussätzigen Dachgärten, die unzähligen feinrippigen Kuppeln und ziegelroten Glockentürme. Es gab weder Maß noch Ziel in dieser Krebsgeschwulst, die mit unbändiger Kraft alles überwucherte, nach wie vor, und sich zudem vor hundert Jahren langsam von innen her wieder aufzufressen begonnen hatte. Eine erste Begegnung; daran dachte sie, im Angesicht des friedlich rauschenden Wassers, das die Grenzlinie gegenüber dem Chaos bildete. Ihre Augen (es waren die schönsten graublauen Augen der Welt, hieß es) verloren sich zwischen dem Abgasdunst des Nachmittagsverkehrs und dem Anthrazitgrau jenes mythischen Frühlingsabends in Wien. Kalt und naß die Straßen, wie ausgestorben; sie stand neben K., dem Mann, den sie damals begehrte (sie verwendete tatsächlich dieses altertümlich-altmodische Wort und lächelte unwillkürlich), ja, sie begehrte ihn tatsächlich und war aus diesem Grund immer an seiner Seite zu finden, so auch an diesem Abend. Er, gewinnendes Äußeres, Charme und Humor in Person, hielt sie mit seinen launigen Sprüchen auf Distanz. Weißes Licht lag in glasigem Glanz über den Fensterscheiben; leuchtendes Kristall und hellbraune Holzvertäfelungen erweckten den Eindruck von verbindlicher Eleganz. In Wahrheit war in dieser Wohnung alles ohne den geringsten Anspruch auf guten Geschmack eingerichtet worden; das entsprach der Oberflächlichkeit ihres Besitzers. Und seinem Hang zur Selbstdarstellung. Wie ein zartes Blütenblatt lehnte sie jetzt neben ihm, ein Fleisch gewordenes Ornament zum Ruhm seiner Großartigkeit, dessen Augen nur auf ihn gerichtet waren. K. trank Wein, während sie leise Geschichten erzählte; er verzog keine Miene. Das ging einige Zeit so; bis M. kam. K. öffnete ihm die Tür; sein Körper verdeckte den Gast, der noch im dunklen Gang stand. Sie wanderte in den Korridor, erschöpft von der angespannten Plauderei, neugierig; sie kannte M. noch nicht. Er machte einen Schritt durch die Tür, sah sie an. Sie lächelte müde. Überraschung und Beherrschung existierten für sie nicht in getrennten Welten; sie war in der Lage, beides zu verbinden. Und doch setzte ihr Herz kurz aus. Ihre Leben hatten sich miteinander verflochten, an diesem Abend. Unlösbar war die Bindung, nicht einmal der Zahn der Zeit konnte sie zerstören. Denn es waren Bilder der Erinnerung, auf denen sie beruhte. Seitdem hatte M. in ihrer Vorstellung nämlich das Gesicht bekommen, dem, bleich und ein wenig hager, an jenem Wiener Abend die freudige Überraschung eingeschrieben war, in dem Moment, als er sie sah. Sie atmete jetzt sehr langsam, fast unhörbar. Die Spiegelung des Wassers war von dunklen Fingern überzogen, Wolkenschatten, dachte sie, Vorboten der Nacht, die kommen und sich auf die brodelnde Stadt legen wird; er hatte sich in sie verliebt als er durch die Tür getreten war. Und sie?