Sonntagsarabesken #65

Feiner Eisregen erfüllt die Luft, als Lucien aufs Neue seinen Gespenstern begegnet. Er hat nur eine halbe Pfeife geraucht. Dafür kommt ihm das grellbunte Spiegelkabinett vor seinen Augen reichlich übertrieben vor. Mit bizarrer Präzision tritt der schlank gekrümmte Körper des Mädchens aus dem Nebel, wie ein feiner Faden silbergrauen Rauches, der sich durch die Lüfte verästelt. Rote Blitze zucken durch ihr Haar. Sie trägt es gelöst, bis auf die Hüften herabfallend. Das Licht hat eine rostige Farbe angenommen. Lucien versucht vergeblich, ihr Gesicht hinter dem schwarzen Schatten zu erkennen, der wie eine große Fledermaus zwischen Haaransatz und Halsbeuge klebt. Er ahnt, nein, er weiß, dass er die blassen blauen Augen, die spöttisch gekräuselten Lippen, die fein geschwungenen Brauen nicht nur schon einmal gesehen, sondern sie sich sogar Tag und Nacht wie die Details eines Kultbildes vorgebetet und eingeprägt hat. Er lacht höhnisch auf: Ja, wie verrückt! Er hat sich in sie verliebt! Er kennt sie, obwohl er sie nicht zu erkennen vermag. Es kann nur sie sein. Die Geliebte. Sie flüstert ihm etwas zu. Schwach gehauchte Worte, die ihn nicht erreichen. Nur als dünnes Murmeln auszumachen, das den Geräuschen fließenden Wassers gleicht. Sein Atem geht schneller. Ein unheimlicher Druck hat sich auf seinen Brustkorb gelegt und verursacht ihm Schmerzen. Die Zähne zusammenbeißen! Jetzt bloß nicht schwach werden! Verschiedenes geschieht in rascher Abfolge, und doch zerlegt sich alles entlang einer unsichtbaren Linie, die Luciens freudig erweiterter Verstand bravourös zu ziehen in der Lage ist, die Motive gruppieren sich so sinnvoll und beruhigt, dass es beinahe harmonisch wirkt. Zuerst streckt sie die Arme nach ihm aus, und ihre Finger krümmen sich wie Krallen; ein Raubtier, das die Gestalt gewechselt hat. Sie schnurrt ihm zu. Große Katze mit blinden Augen; blutige Schleier umfangen seine Pupillen. Es wäre Zeit, sich mit einem unauffälligen Abgang aus der Affäre zu ziehen. Er tut nichts dergleichen; seine Mundwinkel verfangen sich in ausweglosem Grinsen. Er spricht das Wörtchen „Schach“ vor sich hin. Aus ihrer Richtung dröhnt als Echo: „Matt!“. Es paßt. Alles paßt. Verwirrt schüttelt er den Kopf. Brandgeruch. Dazu rauschen die Wellen eines weit entfernten Meeres, und die Mandelbäume, deren Schatten sich über bemooste Kalksteinfelsen spannen, erblühen dem knirschenden Eis zum Trotz. Er ist weit weg, und dennoch sieht er das gesichtslose Wesen. Er denkt an von Schaumkronen umspülte Gewitterstrände, und dennoch spürt er den Nachhall ihrer Stimme an seiner Schädelbasis zwitschern. Sie ist ein Geist. Sie wird ihn überall hin verfolgen.