Walters zweiter Weihnachtstag

An diesem Tag (dem zweiten Weihnachtsfeiertag) mußte Walter erkennen, daß sein Leben zum Stillstand gekommen war. Eis. Seit drei Stunden regnete es Eis. Die wenigen Passanten draußen vor dem Fenster schlitterten über die gefrorenen Gehsteige. Schwarz vermummte Exemplare der Sorte Mensch, die eine unfreiwillige Kür vollführten. Gab es so etwas wie eine Endlosschleife der Existenz? Er drückte seine Nase an das kalte Fensterglas. Wenn ja, dann hatte er sich mit Sicherheit darin verfangen. Walter fühlte den Boden unter seinen Füßen zittern. Kam das nur von den vorbeifahrenden Autos, von der weit entfernten Straßenbahn? Oder wurde ihm tatsächlich übel? Früher Gehörtes tropfte zäh wieder durch sein Denken: Die göttliche Musik entspricht der Bestimmung des Menschen. Das Überdurchschnittliche verklingt folglich immer in einem spektakulären Crescendo. Sanft beginnt es, steigert sich in zarten Verästelungen, erhebt sich zu kraftvollen Auswüchsen, um schließlich in gigantomanischen Kaskaden zu vergehen. Unausweichlich. Was aber, wenn die Kette der Crescendi nicht mehr abreißen wollte? Was, wenn die Nadel des überirdischen Plattenspielers hängengeblieben wäre? Hinter den Scheiben, vor seinem Gesicht, zwischen der Tränenflüssigkeit und seinen Augäpfeln, überall dort spiegelte sich das Gesicht seines letzten Traumes. Es war der altbekannte. Also doch: Die Nadel, hängen geblieben. Er konnte sich an nichts erinnern, das ihn aus dieser fatalen Lage befreien hätte können. Die Wände waren zusammengerückt; die Türen hatten sich geschlossen. Stille. Der Weihnachtsbaum stand wie ein grün behaartes Gerippe im Wohnzimmer; ein lästiger Schatten in seinem Augenwinkel. Keine Glückwünsche, keine Anrufe, keine Briefe; man hatte ihn vergessen. Doch er, er konnte nicht vergessen. Es war wie verhext. Die Bilder jagten einander. Die Landschaften stürzten wie Kulissen durcheinander. Die Menschen taumelten wie Marionetten. Alles von wahnsinniger Hand gesteuert. Walter bekam kaum noch Luft. Warum waren die Fenster geschlossen? Er wußte es. Nichts sollte herein dringen, nichts nach draußen gelangen. Seine Wohnung mußte der denkbar sicherste Ort sein. Gleichzeitig der dunkelste, der verzweifeltste. Die ewige Verlängerung einer Phantasie, in der sich nichts veränderte, weil er die Veränderung einfach nicht erlaubte. Bislang hatte das auch sehr annehmbar funktioniert. Erst heute war ihm der Kopf explodiert. Vor Schmerz und Unbeherrschtheit. Kontrolle! sagte er sich, immer wieder aufs Neue. Es hatte keinen Sinn. Das, was ihm so peinigend als Stillstand seines Lebens zu Bewußtsein gekommen war, ließ sich nicht mehr aus eigener Kraft kontrollieren. Ende. Heiße Träne auf kaltem Fensterglas.