Sonntagsarabesken #74

Wenn Musik die Bedeutungen wechselt. Als ob das Wetter umschlüge oder ein plötzlicher warmer Regen den letzten Schnee von den Straßen spülte. Die Natur wird auf den Kopf gestellt. Eine lange, endlos verästelte, sich selbst verfolgende, ins Nichts zerstäubende, kupfern aufblitzende Melodie, ein Triller kurz vor der Unendlichkeit, die Stimme einer grauen Nachtigall, die nur in magischem Mondlicht ertönt. Diese Melodie war bis vor kurzer Zeit noch mit Trauer und Schmerz behaftet, ein Gefühl, das sich im Lauf von drei, vier Jahren bis zur Unerträglichkeit verstärkt hat. Und jetzt? Jetzt spürt Fabio nur noch die Freude, die ihm ihr Klang bereitet. Fabio ist ein Narr. Zumindest wurde er früher so genannt. Was ist davon geblieben? Nichts, außer dem Namen, der Bezeichnung für etwas, das sich dem Wahnsinn so weit genähert hat, bis es über die Grenze der scheinbar vernünftigen Welt geglitten ist. Fabio, der Narr. Oder besser: Der ehemalige Narr, seit die Natur Kopf steht, seit sich die Sterne in die falsche Richtung drehen, seit Traurigkeit von Glück abgelöst worden war. Narr, ein Name, so verblichen wie die flüchtige Impression einer weißen Dame vor silbriger Meeresbrandung. Er ist auf dem Hügelrücken angekommen. Das gelbe Schloß spreizt sich vor seinen Augen auf, mit all seinen Neben- und Seitenflügeln, eine safranfarbene Krabbe, die wehrlos auf dem Rücken liegt, ein zu Boden gerutschter Reifrock, in dessen Innereien Fabios neugierige Blicke dringen. Dahinter, breit und narbenübersät, die dunkle Masse der Stadt, zerfurcht von Gassengewirr und Flußläufen aus Beton. Hier oben fühlt sich Fabio dem Himmel nicht unbedingt näher, aber wenigstens hat er sich weiter von dieser Stadt entfernt, die ihm unheimlich und bedrohlich scheint. An einem solchen Ort kann er die Melodie wieder in ihrem vollen Glanz genießen; er hört sie tief in sich drinnen, sie vibriert und fließt durch seinen Magen wie warmer indischer Tee, ein Wundermittel, das früher die Holzbäuche portugiesischer Galeonen mit seinem Duft erfüllte. Fabio dreht das Gesicht so, dass er die Stadt zur Gänze überblickt, während der starke Westwind seine Wange mit Wassertupfen streichelt. Das Unvorhersehbare und Geheimnisvolle breitet sich da unten aus. Es entsteht und vegetiert in den Steinschluchten und unter den Stahlwurzeln des Häuserwaldes. Keine Musik kann dort noch existieren. Kein Strandspaziergang, keine Brandung und keine weiße Schönheit. Das ist die Wahrheit unter der Asphaltdecke der Straßen. Man kann sie versiegeln und wegsperren aber niemals besiegen. Viel gesünder ist es aus diesem Grund, den Standort zu wechseln. Dorthin zu gehen, wo die Musik ihre Bedeutungen wechselt und nicht mehr traurig sondern fröhlich klingt. In diesem Sinne schließt sich Fabios Erinnerung über dem Abfall des Gewesenen. Es ist ein Vorgang, der mit Leichtigkeit und in aller Ruhe gelingt. Er war ein Narr. Jahrelang. Doch jetzt hat er ihn gefunden, seinen neuen Aussichtspunkt.