Sonntagsarabesken #88

In einem blauen Kleid läuft sie über die Brücke. Ein heißer Maitag. Blonde Haare, von afrikanischer Sonne gebleicht, fallen über nußbraune Schultern. Ein Lächeln, herrlich, eines silberglänzenden Engels würdig, schmückt das zierliche Gesicht. Mein Herz macht einen Sprung. Die federnden Bewegungen des Mädchens spiegeln pure Lebenslust und Freude, gebündeltes Glück, euphorische Liebe. Dieses Bild des Schönen, das sich einst in mein Bewußtsein gegraben hat, grabe ich jetzt wieder aus, während Tränen unter meinen blinden Augen brennen. Stammelnd stoße ich hervor: Vergib mir meine Schuld! Doch ich weiß, dass sie mir nie vergeben können wird. Mein altes Leben ist gelebt. Es ist vorbei. Die goldenen Mosaiksteinchen herausgebrochen aus dem Bild einer vollständigen Existenz, die Schattentage fast vergessen in der Nostalgie des Zurückblickens; ich ringe um Standfestigkeit, obwohl ich mein neues Gravitationszentrum bereits gefunden habe. Die Schwere des Gelebten und Getanen und Gesagten, tote Masse, wühlt sich beharrlich empor an die Oberfläche der Gegenwart. Und ich spüre einen unwirklichen Schmerz, der das Atmen fast unmöglich macht. Einen Phantomschmerz, der nichts mehr mit Liebe, aber viel mit verblichener Zufriedenheit zu tun hat. Szenenwechsel: Die selbe Brücke, unter Eiskristallen begraben, nach einer düsteren Winternacht, in der Phantasie eines Neunzehnjährigen, der hier Jahr für Jahr den Wandel der Jahreszeiten erleben durfte (auf dem Weg zu ihr). Zerschmettert liegt der Körper des schwarzhaarigen Mädchens (vielleicht hieß sie Elisabeth?) am gepflasterten Grunde des Flußbettes, im frisch gefallenen Schnee. Blut überall. Es ist kalt, minus zehn Grad Celsius, der Westwind sticht in Augen und Nasen. Die Polizisten und Rettungshelfer stapfen die schneebedeckten Stufen hinab, gleiten auf dem gefrorenen Kopfsteinpflaster aus, erreichen die Leiche; auf der Brücke oben bleiben die morgendlichen Fußgänger stehen und starren schaulustig hinunter. Einer der Polizisten schirmt mit der Hand die Flamme seines Feuerzeuges ab und zündet sich eine Zigarette an. Der Körper wird schnell in einen Blechsarg gehoben, die rauchenden Polizisten wandern fröstelnd auf und ab. Ein weiterer Beamter versucht, auf der Brücke unter den Passanten Zeugen für den Sprung des Mädchens zu finden, doch niemand ist unmittelbar dabei gewesen. Ein Polizist beginnt, den verstreuten Inhalt ihrer Handtasche aus dem Schnee aufzulesen. Sie ist also mit der Tasche gesprungen; vielleicht kurz entschlossen, auf dem Weg zur U-Bahn. Vielleicht ist sie aber auch auf einem Morgenspaziergang gewesen, in depressiver Stimmung. Es bleibt unbekannt, wo sie die Nacht zuvor verbracht hat. Der Zeuge erinnert sich später daran, dass einer von Elisabeths Schuhen mit dem Absatz nach oben in dem blutig getupften Schnee gesteckt sei, und auch an das unerträglich laute Geräusch eines läutenden Mobiltelefons. Pietätlos nennt er das. Einer der Polizisten, der mit der Zigarette, hebt schließlich ab. Das ganze Szenario dieses Todes ist eigentlich lächerlich. Im warmen Frühling des nächsten Jahres betritt unter den schöpferischen Händen des Autors eine ebenso phantastische Figur, nennen wir sie Jakob, die selbe Brücke. Seine Augen beißen sich fest an jener Stelle, da der Handlauf des Geländers gleichsam aus den fülligen Dolden eines jetzt in voller Blüte stehenden Fliederbusches heraus zu wachsen scheint, die schwarze Asphaltbahn begrenzend, dann folgt sein Blick dem mattgrünen Streifen bis an seinen Wurzelpunkt im weißen Stein der U-Bahnstation. Jugendstil, denkt er, Jugendstil mit den ganzen Borten und Quasten und Kordeln, die sich in gleichen Abständen um und zwischen die Streben des Geländers schlingen. Dann: Das Mädchen hat seinen Fuß auf eine dieser Ranken gesetzt, dort, wo sie in gewellter Horizontale verläuft, vielleicht auf den Blätterkranz, annähernd in der Mitte des Geländers. Sie hat sich mit ihrem roten Samtschuh in den Jugendstilschnörkeln verkeilt, die Hände um den mit Grünspan bedeckten Ast gelegt, sich hochgezogen. Niemand hat das beobachtet. Und doch gibt es ihn auf dieser Brücke, den ewigen Beobachter, der den Schatten des blauen Kleides vorbei huschen sieht und das Lachen des blonden Mädchens bewundert und der die Geschichte der Gefallenen und ihres Freundes Jakob kennt. Er denkt an das Gewesene, das Versäumte, das Wunderschöne und weint. Dieser Beobachter bin ich.