Sonntagsarabesken #91

Winterreise im Sommer, in der backofenheißen Stadt, deren Häuserschluchten in der Spannung des Hitzeschleiers vibrieren, und die Tritte des Wanderers vergehen in eisiger Kälte schneebedeckter Wiesen. Kahle Bäume, an denen tote Körper baumeln, zeichnen sich rasiermesserscharf gegen die gelb dampfende Sonne ab. Das Gras ist verbrannt und schon von unsichtbarem Eis überzogen. Steif gefroren die Beine, das Blut gestockt und abgeschnürt, violett gefärbte Lippen, zwischen denen dunkelrote Zungen hervorquellen. Tränen, die verdunsten; Tränen, die das Eis durchdringen, um sich dort in die schreckliche Göttlichkeit der Grausamkeit aufzulösen und Qualesblüten zu gießen. Lebens- und Liebeselixier sind solche Tränen, verschwindend, noch bevor man ihren Quecksilberschein hatte wahrnehmen können. Die Bilder aller Geliebten verblassen hinter diesen Visionen der Verzweiflung und der Auslöschung. Der Weg ist das Ziel dieser sommerlichen Winterreise, quer durch den Steingarten der Leidenschaften, der Ansichten und Blickfänge, der Motive, die sich in Vergangenheit angesammelt und zum Teil bis in die Gegenwart verlängert haben, wo sie immer wieder aufs Neue die Wirklichkeit überkreuzen: Eine halb gewendete Wange mit fliederfarben unterfangenem Auge, dessen Lid müde herabgesunken ist, fleischiges Magnolienblütenblatt, schwer geworden und dem Schlaf überlassen; ein dünnes Handgelenk und viel zu große Hände, filigrane Knochen, transparente Haut, das opake Braun nichtssagender Pupillen, und doch eine lippenglühende Madonna, deren Glanz die Melodie der still verlebten Nacht überstrahlte; ein Kranz hochgesteckter blonder Haare, unter deren Bausch der weiße zarte Nacken von jugendliche Schönheit kündet, die sich in anmutigste Bewegung und aufreizendes, wenn auch stummes Lachen übersetzt; eine ständig wiederkehrende dunkel grundierte Gesichtskomposition, schräg stehende Augen, bestürzend lebendig unter vordergründig kalter Oberfläche, dazu das Wispern, il sibillo; das selbe Motiv maßgeblich begegnend bei einer weiteren Zauberin, die das Orakelhafte in Natur zu verkörpern scheint, in Tausend Spiegeln gebrochene Variante der Schönheit, die eine epische Raserei entfesseln konnte, umschlossen von weinlaubbewachsenen Mauern; ein kornblumenblaues Kleid, dessen flatternder Saum das Brückengeländer küßt, und im Sonnenlicht golden schimmerndes Haar, in freudig gerötetes Gesicht geschleudert, Anblick der Leidenschaft, Ausblick auf ungeahnte Zukunft. Und schließlich das glühende und ewig frische Bild letzter und erster Winterliebe, das sich unter der heißen Watte der Sommertage in völliger Frische erhalten hat: Lachen und Gespräche und Küsse im Taumel einer verkopflosten und überglückten Lust, die alles Wesentliche in sich zusammenfaßt, die unübertrefflich Stunde für Stunde das bislang Undenkbare und Unerreichbare will und es auch immer wieder unbeirrbar erreicht. Das letzte Bild dieser Reise. Das schönste von allen.