Sonntagsarabesken #98

Der Atem der Stadt geht träge. Die Lungen der Menschen sind von hartgebackener Luft verklebt. In einem Sog aus Hitze und Schmerz liebt man sich an den Rand der Existenz. Erweiterung des Rausches bis zur Auflösung. Die Haut gleicht einer Tablette, die in salziger Wasserumarmung zerstäubt. Weißer Nebel breitet sich um die Köpfe der Passanten, und Staub klebt an ihren Schenkeln. Die rotgefleckten Füße der Madonna berühren kaum den Boden. Ein sanfter Luftzug spielt um die geschundenen Knöchel. Ein Schleier von Mücken begleitet sie hinab zum Rund des in silbergrauen Smog gehüllten Hafenbeckens. Auf Asphaltpisten, die den eingefallenen Brustkorb des Giganten bedecken, die wie breite Adern sein Gesicht in mäandrierenden Bahnen überziehen, ein magisches Netz hieroglyphischer Bedeutungsvielfalt webend, wandelt das heilige Geschöpf. Der Verkehr kommt zum Erliegen. Demütig verneigen sich die wie versteinert stillstehenden Städter. Im Spalier der Salzsäulen regt sich kein Sterbenswörtchen. Die Stille ist vollkommen. Die traumwandlerischen Schritte eines Todeswalzers taumelnd, nähert sich glühend die von blauem Stoff Umflatterte dem öligen Schleim des Hafenwassers. In ihrer Linken drei weiße Lilien mit hängenden Köpfen. Die Rechte, zur Faust geballt, umfaßt das messingfarbene Kruzifix, das sich in leichtem Zittern zu bewegen scheint. Es ist ein Wunder. Der Chor der Mörder schallt in tausendfachem Echo von der Felsmuschel herab, die den Stadtkoloß in ihrer Schale birgt. Noch sind sie fern. Sie, die das Glück in schnellem Zugriff im Flackern ihrer blutunterlaufenen Augen untergehen sehen wollen. Unersättliche Sucher, denen nur der Untergang ein Begriff ist. Und die das Schöne, Gute, Heilige nicht anders als mit Füßen treten können. Primitives Bauernvolk, einer vom Strom durchflossenen häßlichen Ebene entstammend, was streckst du die Finger nach dem Höchsten aus? Er tritt aus der Reihe der andächtig Stehenden hervor, den Dolch in unverschämter Offenheit an die Seite des rechten Oberschenkels gelegt. Der kalte Stahl hebt sich blau gegen die gelbe Dotterhitze der durch das Gewölk dringenden Sonnenstrahlen ab. Die Tat kündigt sich an in seinem zielstrebigen Gang. Er ist klein und dunkel, das Haar kurz geschoren, die merkwürdig geschlitzten Augen zweifärbig, zwischen sherryfarbenem Gold und rauchigem Grau changierend. Die Unterlippe, hart und schmal verkniffen, wird von einer merkwürdig sinnlichen Schwester überlappt, die von einer merkwürdigen Feuchtigkeit bedeckt scheint. Lüstern ist dieser mangelhaft proportionierte Mund, lüstern und grausam. Die Spitze des Dolches zuckt mit dem Pulsieren der Oberschenkelarterie. Der kleine dunkle Mörder hat sich der Madonna in den Weg gestellt. Keine Regung. Die Menge glotzt aus Schafsaugen. Kehliges Lachen aus den Bergen. Ein Lachen von Seinesgleichen. Zufrieden im Moment des Massakers. Befriedigt durch das handgreifliche Element der Tat. Tatmenschen, die sich untereinander kennen. An diesem heißen Tag vibriert der Trieb durch die Steinmuschel. Gänsehaut rieselt über das Hafenwasser. Ein breites Rinnsal dunklen Blutes ergießt sich zwischen rotgefleckte Füße und geschundene Knöchel. Blauer Stoff sinkt auf schwarzen Asphalt. Sie schließt müde die Augen, und ihr dunkelblondes Haar fällt in mattem Schwung auf die bleichen Schultern nieder. Das Kruzifix schmettert zu Boden. Lüstern-grausame Oberlippe hebt sich im Rausch eines irrwitzig belebten Lachens. Und weiße Blütenkelche versinken in Blut.