Sonntagsarabesken #101

Einen Tag, bevor der als „Hercule“ zu Ruhm gelangte Dichter unsterblicher Liebesverse sterben sollte, traf er die wunderbarste Frau von allen. Hatte er sie zuvor nur aus der Ferne gekannt und sich manchmal stärker, manchmal untergründig nach ihr gesehnt, so stand sie in diesem Moment, am späten Vormittag eines regenschwangeren Tages am Westrand der Stadt, leibhaftig vor ihm. Mit einem Lächeln auf den Lippen tauschten sie erste Grußworte. Die Farbe ihrer Wangen war von jener weichen Frische, die einst Rembrandt in das Gesicht seiner Saskia gezaubert hatte. Das Licht über ihrer Stirn bernsteinfarben umwoben, in Bronzehaar zerflossen. Hercule blickte in ihre Augen und fühlte sich bodenlos glücklich, fortgespült von dem glasklaren Glanz muranoblauer Wellen. In dieser Lagune entzückter Zeitlosigkeit ließ er sich zwei, drei Stunden lang treiben. Die Begegnung mit der glänzenden Seite der Gegenwart bereitete ihm mit einem Mal Vergnügen; welch herrliche Abwechslung nach Wochen und Monaten des ständigen Erinnerns, in denen längst tot geglaubte Geister zu seinem Schrecken aus ihren Gräbern erstanden waren und an die Fenster seines Arbeitszimmers gepocht hatten. Er roch den Duft dieser Frau, ein Profume von Mandeln und Karamel, in das ihre üppigen Formen eingehüllt schienen, ein cremiges Aroma, das für die Ewigkeit bestimmt schien. Ihre Arme waren in lässiger Haltung vor der Brust gekreuzt. Ihr Lachen von verführerischer Offenheit. Ein Halbmond lasziven Lippenstiftglänzens. Hercule spürte den Boden unter seinen Füßen vibrieren. Seine Schwärmerei, die sich aus der Betrachtung einiger Photographien entwickelt hatte, nahm plötzlich konkrete Ausmaße an. Die Minuten hüpften in regellosem Reigen vorüber. Worte klirrten gegeneinander wie kostbares Kristall; die gegenseitige Freude gab das Tempo an. Verfall und Gewesenes spielten plötzlich keine Rolle mehr. Hercule vergaß mit spielerischer Leichtigkeit das bereits einmal Vergessene. Entspannt – als sei er in einen Jungbrunnen getaucht – kehrte er nach ihrer Unterhaltung an seinen Schreibtisch zurück. Eine Reise sollte vorbereitet werden. Doch die frische Erinnerung an das Gesehene, Gefühlte, Gerochene hatte ihn noch immer fest umschlungen. Er übersah Wesentliches. Seine Gedanken vermochten sich nicht von dem übermächtigen Bild der Schönheit zu lösen. Zu tief waren sie in den Glasfluß der betörenden Augen eingetaucht. Das Licht wurde gelöscht. Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Denn der neue Tag würde die Bilder mit Vernichtung bedrohen. Aus diesem Grund zwang sich Hercule zum Wachbleiben. Mandeln und Karamel duchströmten seine Nase, Bronzeschimmer und Wellenglanz erleuchteten die Dunkelheit, die seine Augen vergeblich zu durchdringen suchten. Er trat ans Fenster und schob die Vorhänge zurück. Bald würde ein gelber Sonnenrand hinter den Hügeln auftauchen. Und das Glück war verschwunden.