Sonntagsarabesken #110

Eiskristalle liegen in der Luft. Ich verfolge den leuchtenden Regenbogen ihres Schals durch die Stadt; die Lichter schwinden vor dem Heranrollen der Herbstnacht. Hand in Hand und Herz in Herz, veschränktes Leben, das vor lauter Freude den eigenen Schatten jagen will. Die Straßenbahnen ziehen goldene Staubspuren hinter sich her, während honigfarben der wachsende Mond über dem Wasser glänzt. Küsse ersetzen den Sekundenzeiger meiner Uhr; die Zeit, deren bedrohliches Rufen mich schon fast eingeholt hatte, ist jetzt wieder weit entfernt, hinter dem Horizont, dessen Berge sich um mich geschlossen haben. Die Bewegungen fallen leicht, schwereloses Gleiten durch Zufriedenheit. Wie haben wir uns gefunden? Durch einen Zufall, der an Schicksal denken läßt. Dunkel und leer die Augenblicke, in denen ich am Fenster saß, mit Blick auf die von Winterstürmen leergefegte Straße, hinter einer schlierigen Scheibe, in Gedanken dort, an den abfahrenden Zug geklammert, in den Schlafwagen mich hineinwünschend, der sie in eine andere Welt bringen sollte. Abschiedsszenen, in schneller Reihenfolge hintereinander geschaltet, ein Flackern elektrischen Lichts; alles Leben läuft formelhaft ab, und der Regen, der in kleinen kalten Tropfen die Straßenbahnschienen der in Erinnerung konservierten Stadt benetzte, scheint im neuen Herbst wiedergeboren. Die Monate der Trennung sind wie in einem traumerfüllten Rausch vergangen, mit einem hauchdünnen Schleier von Unwirklichkeit überzogen, das scheinbar Schwere und Unüberstehbare sieht im Nachhinein klein und unbedeutend aus, das Glück hat die überdehnten Momente der Einsamkeit gefressen, die Melodien und Gedanken, die um das kurzfristig Verlorene kreisten, die das Warten auf künftige Umarmungen, luftige, noch nicht gegebene Gespensterküsse, beschworen und begleiteten. All das ist verschwunden und verklungen; das Jahr ist in sein letztes, von den Feuerringen erfüllter Liebe umleuchtetes Stadium eingetreten. Schwere Atemzüge, glückbeschwert, Schnaufen, das von der berühmten unerträglichen Leichtigkeit des Seins kündet. Die frisch geschnittene Rose öffnet langsam ihre Blüte, enthüllt schamvoll, doch ein wenig lasziv die Innenseite ihrer mattroten Blätter, und in der Wärme des Raumes wird sich bald der intensive Duft nach Schönheit ausbreiten, der uns an die Pracht der eigenen verknoteten Lebenstage erinnert. Gerne gefangen von und mit und in ihr. Gefunden, aufgehoben und bewahrt in der Tiefe ihres Wünschens. Die Schatten der sterbenden Tage werden weggespült von einem klaren, im Kern glühend heißen Licht, das dem Winter Leben gibt. Mittelmeerbrandung wäscht über das Pflaster der Innenstadt. Neapolitanischer Sonnenwind flutet durch die entlaubten schwarzen Astkronen im Schönbrunner Schloßpark. Die schwüle Hitze Goas bricht sich an den Hauswänden des neunten Bezirks. Himmlischer Regenbogen strahlt meiner Liebe voran. Und ich folge ihm.