Sonntagsarabesken #119

In der Wohnung ist es dunkel und eisig kalt. Er geht langsam in die Küche und öffnet das Fenster. Das regennasse Pflaster des Innenhofes zeigt sich mit rostbraunen Blättern beklebt. Sein Blick taumelt in die Tiefe, fällt in den Abgrund, den schüchtern glitzernden Spuren hinterher, die ein luftig leichter Fuß auf gläserner Leiter hinterlassen hat. Als sei sie auf das Fensterbrett gestiegen, mit verschlafen unsicherem Schritt, um an einen Rosenregenschirm geklammert aus dem dritten Stock der Erde entgegen zu schweben. Süßer Abgrund. Lockende Tiefe. Unten drücken starke, ungeduldige Hände die Flügel des Haustores auseinander. Schwarzer Lack bleibt am Schweiß der Handfläche kleben. Trampelnde Füße im Stiegenhaus. Nach unten. Kleine Blutspritzer verunzieren den Türstock. Was ist geschehen? Unschlüssige Gesten, verzweifelte Blicke. Dann ein wüstes Durcheinander. Eine Stunde später ist alles vorbei. Er wandert langsam die Hügelflanke hinab, steigt in die Straßenbahn und fährt ans andere Ende der Stadt. In der Umarmung fühlt er sich geborgen. Körperkontakt, nach dem er sich gesehnt hat. Sie rücken nahe zusammen, er spürt die warme Biegung ihres Halses unter seinem Kinn, berührt ihre Schläfe, streicht eine Haarsträhne zurück, ihre Lippen wandern über seine Wange, Tritte auf gläsernen Stiegen, rostender Stein, brennendes Sommerfeuer, aus dem sich eine graue Rauchsäule erhebt, die wie Bierschaum im Blau des gnädig vergessenen Himmels zerflockt. Es sind Bewegungen, die sich gegenseitig überlagern, das Geschehene verdecken, Zukünftiges verschwommen erscheinen lassen, kurze Stromstöße durch die Oberfläche des Jetzt jagend. Bewegungen, die bebender Musik gleichen, einem berührenden Tremolo, das aus untergegangener Epoche herüber grüßt. Seine Finger vergraben sich in ihrem Haar, und die Blicke finden kein Ziel mehr, so nah sind sich die beiden Körper. Seine Liebe schält sich klar und scharf aus dem engmaschigen Netz der Bilder. Die Gewißheit greift in seine Magengrube und wühlt in seinen Eingeweiden. Es ist kein häßliches Gefühl. Vielmehr ist es das bewußte Erleben von Glück, reinem, makellosem Glück. In der Kirche, auf einer der hinteren Bänke sitzend, hatte er den Kopf an ihre Schulter gelegt, und ihr linker Oberschenkel hatte sich gegen sein rechtes Knie gedrückt. In der möderischen Augusthitze waren sie zwischen zerwühlten Laken gelegen, in einander verknotet, und hatten in völliger Erschöpfung die weiße Zimmerdecke fixiert, über nichts Geringeres als die Hingabe und das Verlangen redend. Und im hektischen Taumel der letzten Januartage hatte samtiges Rot sie geborgen, als sie einander das erste Mal berührten. Diese Augenblicke sind zusammen genommen das Wertvollste, an das er sich zu erinnern in der Lage ist. Ihre Lippen erreichen jetzt sein Kinn. Er senkt ein wenig den Kopf. Ein Kuß beginnt, langsam und vollendet, so wie damals ihre Liebe. Und genau wie diese würde er niemals mehr enden.