Sonntagsarabesken #130

Aus ihrem Traum aufgeschreckt, leichenblaß, umklammert sie vermeintlich das Handgelenk des Geliebten, in Wahrheit doch nur die Finger in den eigenen Oberschenkel grabend. Sie hört die sich über Stock und Stein verfolgenden Stimmen, sich in unzähligen Salti überschlagend; sie sieht den Schatten des Kentauren, der mit mächtigen Schritten in den Hohlweg prescht. Tausende Zikaden untermalen die Szene mit dramatischem Rauschen. Dahinter, leiser, doch seines salzigen, algigen, muscheligen Geruches wegen omnipräsent, das Meer, monströser, in zerklüftetem Steinbett gefangener, unsterblicher Körper, der rasend gegen die Mauern seines Kerkers anbrandet, ohne Hoffnung auf Erlösung. Sie blickt auf die azurblaue Linie, die den Horizont bekränzt. Feine Gischtkronen zieren dieses von Wellenwurf geknitterte Band. Wie kleine Wattestücke, denkt sie. Blut sickert zwischen ihre Knöchel. Eine Zeit lang wippt sie in rhythmischer Bewegung mit dem Oberkörper hin und her; dann läßt sie die Schultern ermüdet gegen die Rinde des Ölbaums sinken. Keines der Bilder ist aus ihrem Kopf verschwunden. Noch immer tobt der Kampf. Sie sieht zu, ohnmächtig, blickt in seine lüstern aufgerissenen Augen, faßt nach dem Schaum, der seine Mundwinkel benetzt, durchsichtige Bläschen auf dem fleischigen Rot der Lippen, sie umklammert mit beiden Händen den Hals des Mädchens, das sich in wollüstigen Zuckungen windet, sie drückt zu, blickt in ihre zuerst noch erregt, dann mit einem Mal angstvoll verdrehten Augen. Der Schmerz dringt an die Oberfläche. Das Grauen einer Sommernacht. Sie hat jetzt alles zwischen ihren Fingern. Ein Bündel angespannter Sehnen und Knorpel, überspannt von feiner rosiger Haut. Sie drückt zu. Sie drückt zu. Es ist eine ungemein befriedigende Tätigkeit. Die Farbe weicht aus dem Gesicht des Mädchens. Sie, die langsam und genußvoll Erwürgte, preßt seltsam gutturale Laute zwischen quecksilbergrauen Lippen hervor. Mitleid? Für Schwächlinge! Sie stirbt. Sie verreckt. Sie erstickt. Etwas in ihren Pupillen ist zerbrochen. Die Lider zucken in hektischen Intervallen. Er? Steht daneben, bedeckt sich notdürftig mit einem Laken. Ratlos. Hilflos. Sein Blick irrt zwischen der Sterbenden und ihrer Mörderin hin und her. Kurz hebt er die Hand. Läßt sie, schwach geworden, wieder sinken. Dann wendet er sich ab und schleicht mit unsicheren Schritten zurück in die Dunkelheit des Schlafzimmers. Sie spürt den Baumstamm an ihren Schulterblättern, schroffe, im gnadenlosen Spiel der Jahreszeiten geformte göttliche Form. Unwillkürlich reibt sie ihre Oberarme an der Rinde und schließt die Augen. Noch immer warmes Blut auf ihren Knöcheln. Doch auch das wird vorübergehen. Zwei, drei Stunden später wird sie aus ihrer Ruhe gerissen. Das Wetter hat umgeschlagen; die schwüle Hitze entlädt sich in einer weißen Regenkaskade, die, aus gewaltig sich übereinander türmenden Wolkensäulen entlassen, das Land und alle seine Geschöpfe hinfort zu spülen droht. Auf dem regennassen Kies droht sie auf ihren nackten Füßen zu straucheln. Nur unter Anstrengungen erreicht sie die schwarzen Felsen des Kaps. Die Klippe ist von Nebel umfangen. Man sieht keine zwanzig Schritte weit, und doch: Da ist eine Gestalt, irgendwo knapp am Rand des Steilabbruchs. Sie streckt die Arme nach ihr aus. Ein blasses Gesicht. Scharlachrot leuchten die Abdrücke zweier Hände auf ihrem Hals. Sie winkt ihrer Mörderin zu. Tröpfchenweise mischt sich Blut in das Regenwasser. Salziger Schaum brandet über die Felskante. Sie hat das Mädchen erreicht und berührt seine Hände. Ihre Finger schließen sich fest in einander. Das Meer brüllt hungrig zu den beiden herauf. Feiner Wasserstaub, heiße Nadelstiche. Wieder schließt sie die Augen, trinkt den Nebel. Eine Alge berührt ihre Ferse. Dann spürt sie Luft unter ihren Füßen. Der Traum hat von Neuem begonnen.