Sonntagsarabesken #131

Im Raum schwebt das Bild eines Bildes. Mit gesenktem Kopf wartet die Göttin auf das Nahen des Unwetters; schwarze Wolken schieben sich in brutalem Wirbel über den Himmel, ballen sich zusammen wie eine zum Schlag bereite Faust, regenschwanger, blitzbeladen. Es ist der Augenblick, der Lidschlag, kurz bevor die Hölle losbricht. Die Zeit, auf die eigenen Atemzüge zu hören. Wir werden uns wiedersehen. Wiedersehen, im Schein eines schwachen gelben Lampendochtes, jeder gefangen in den eigenen Tränen, die teils aus Freude, teils vor Schmerz vergossen werden. Ich werde dich fragen: Aus welcher Richtung bist du gekommen? Und du wirst antworten: Ich war schon immer hier. Du bist zu mir gekommen! Dann, mit schmalen Augen, werde ich dich mustern, die Details deines Gesichts, deine Haut, deine Haare, werde erkennen, dass du dich kein bißchen verändert hast, seit du gegangen bist, damals, in einer schwülen Spätsommernacht, leise, auf Zehenspitzen, um uns auch ja nicht zu wecken. Du bist der Selbe geblieben. Dunkel und groß, ein Schatten, der einen wunderbaren heiteren Glanz rund um sich zu verbreiten pflegte, ein durch und durch gutmütiger Mann mit sanftem Blick, ein Fels in der Brandung, zu dem ich aufschauen und an den ich mich klammern konnte. Jetzt? Bild eines Bildes? Transparente Täuschung, geboren aus dem Reflex einiger Lichtstrahlen in der Fensterscheibe? Ich werde den Mut fassen, deinen Arm zu berühren. Dieser Moment wird alles entscheiden. Ob meine Finger durch das luftige Gewebe einer Illusion gleiten? Oder haften bleiben an warmer Haut, unter der die Wirklichkeit von Fleisch und pulsierendem Blut pocht? Ich will mir diese Fragen nicht beantworten. Noch nicht. Die Sekunde wird es zeigen, dann, wenn es passiert. Bis dahin beobachte ich sterbende Blüten. Schwerfällig lösen sich die toten Blätter aus der Umarmung der noch Lebenden, taumeln, mit einem klagenden Geräusch, fast unhörbar, nach hinten knickend, sich dem Boden zuwendend. Aufschlag. Ein gespenstischer Tanz. Ich beginne zu begreifen, wie sich das Vergehende, bald ganz Vergangene, aus dem Heute zu lösen pflegt: Genau so. Wie ein Blütenblatt. Später sitze ich am Rande eines belebten Platzes; die Händler räumen ihre Ware hinter die Markstände, Laufburschen kehren den Abfall zu großen Haufen zusammen, dazwischen das Knattern von Vespas, lachende Kinder, ein Fußball, der gegen die Kirchentür getreten wird. Jemand entfacht ein kleines Feuer, in das er trockene braune Salatköpfe zu werfen beginnt; einige hundert Kilometer weiter südlich, auf einem anderen Platz, zwischen anderen Häusern und Kirchen, inmitten anderer Leute, geschieht vielleicht genau in diesem Augenblick dasselbe. Die Rauchsäule steigt, zuerst dünn, dann immer dichter werdend, empor. Davon hast du mir erzählt, vor langem, hast ein Gedicht zitiert, das ich nie vergessen werde. Wieder überschneiden sich die Ebenen der Zeit; wieder höre ich deine Stimme aus längst vergangenen Stunden als säßest du jetzt, hier neben mir. Ich spüre die Wärme deines Körpers an meiner Seite und bin zufrieden. Gemeinsam sehen wir zu, wie die Flammen durch das verfaulte Gemüse züngeln. Du sagst: Siehst du, so wird er bis heute verbrannt! Und zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren scheint schwarze Bronzemann zu lächeln. Nur für dich.