Sonntagsarabesken #135

Die Sonne bricht durch dunkelgraue Wolken. Ein kurzer Moment intensiv erlebter Schönheit, doch nicht von Dauer: Das Licht erstirbt wieder. Die Wärme auf seiner Wange schwindet. Ein kühler Windstoß bauscht die Vorhänge. Es ist wieder alles wie zuvor. Sein Herzschlag normalisiert sich. Die Atemzüge werden gedämpft, sich dem Rhythmus des in quälender Gleichmäßigkeit ablaufenden Tagesgewebes anpassend. Doch unterschwellig mischt sich ein anderes, beruhigendes Geräusch in das diskrete kehlige Schnaufen der sich mit Luft füllenden Organe. Wellen. Meereswellen. Zugleich: Salziger Wind. Sand zwischen den Zehen. Muschelschalen, über den Fuß gespült. Reise in Gedanken, zurück an einen lange im Nebel des schleichenden Vergessens verborgenen Ort, eine kleine Bucht, umfangen von schroff ansteigenden Klippen, pinienbestanden. Schmale schottrige Wege, dicht bedeckt von harzig duftenden Nadeln, führen zum Strand hinab. Dort tummeln sich einige wenige schattengleiche Gestalten. Sein Verstand verliert sich in dem von dünnen Wolkenfetzen durchzogenen Himmel, der, von kupferroter Sonne rauchig durchglüht, ihre beiden Körper gütig bedeckt. Am Horizont scheint ein Schiff schon seit Stunden nicht vom Fleck zu kommen. Nur an den geblähten Segeln kann man erkennen, dass es wohl Kurs auf die südliche Küste genommen hat. Kalter Wodka und Melonenwürfel. Gelächter, während man sich gelenkig gegenseitig die Felsen hinauf verfolgt; Finger schließen sich um nußbraune Knöchel, sie stolpert, droht zu fallen, er fängt sie geschickt und hält sie spielerisch in seinen Armen. Die Zeit steht still, während sich ihr Brustkorb hektisch hebt und senkt. Er genießt es. Ein langer Kuß. Dann rufen die Freunde; der Abend beginnt. So könnte es gewesen sein. Oder ganz anders: Glühende Wangen, Augen, die einer Sternschnuppe folgen, Bier und Sand, der hinter den Ohren klebt, von seinen Fingern dorthin getragen, als er ihr das Haar nach hinten gestrichen und sein Flüstern sie beruhigt hat. Die Bilder bröckeln auseinander. Nichts davon ist noch real. Oder vielleicht doch mehr davon, als sich das der entfernte Beobachter in der grauen Stadt vorstellen möchte? Ohne eine einzige eigene Erinnerung, die in diesem Augenblick helfend zur Seite stehen könnte. Gereizt und hungrig, förmlich ausgehungert nach der sanften Beruhigung ihres Lächelns, so kauert er hinter seinem Fenster, das ihm den Blick auf eine graue fleckige Fassade eröffnet. Das schemenhafte Paar am fernen Strand löst sich im Schaum der Brandungslinie auf. In ihm hat sich der Abgrund geöffnet. Er packt den Briefbeschwerer und schmettert ihn gegen das eigene Spiegelbild, das ihm milchig verzerrt aus der Glastür entgegen starrt. Dann setzt er seine nackten Füße in den Scherbenhaufen, langsam und wohlüberlegt, einen nach dem anderen. Er bewegt die Sohlen und die Zehen hin und her, bis er das Blut in dunklen Ästen nach allen Seiten hin auseinanderquellen sieht. Er fühlt sich müde und benommen, noch bevor der Schmerz sein Bewußtsein erreicht. Das Zimmer beginnt sich um ihn zu drehen. Er will zurück. Zurück zu ihr. Sein grausamer Zorn taumelt unter diesem plötzlichen Aufwallen von Trauer und zerbricht. Eine Träne tropft auf sein schlaff baumelndes Handgelenk. Da spürt er einen schüchternen Kuß auf seiner Schläfe. Das geliebte Gesicht formt sich aus den zuckenden Lichtreflexen zwischen den Glasscherben. Sie lächelt ihm zu. Er streckt die Hand nach ihr aus. Dann umfängt ihn die Dunkelheit.