Sonntagsarabesken #141

Die Stadt ist ein Gefühl, das langsam wieder in meinem Körper erwacht. Sie kriecht mir unter die Haut, sie breitet sich aus in meinem Blut, sie füllt meine Nase mit ihrem Duft. Kühler Wind vom Meer, der manchmal Regenwolken mit sich trägt. Doch die Dachziegel sind noch warm von der Vormittagssonne. Die Hecken blütenüberwuchert. Und die Katzen in spätsommerlichem Schlummer versunken. Vier Jahre entwirren sich vor den spiegelnden Fensterscheiben, ihre Verschlingungen und Irrwege verschwimmen in einer transparenten Wolke goldenen Lichtes. Dazu Musik, die ich schon lange nicht mehr hörbar glaubte. Und hinten, in der dunklen Höhlung des Stehparterres, lehne ich mit glühenden Wangen, neben mir die Wärme eines frischen jungen Körpers. Mein Applaus zerrinnt im Enthusiasmus der anderen. Jetzt, sechs Jahre später, hallt er mir wieder in den Ohren. Und was kam danach? Wieviele Stunden und Tage und Wochen sinn- und hoffnungslosen Sinnens und Hoffens? Wieviele gute Gedanken, die einem einzigen falschen Gedanken geopfert wurden? Und wieviele Worte, die sich zu endlosen Kaskaden in einer gebetsmühlenartigen Fontäne formten, gespeist von verschmähter liebestoller Sehnsucht? Schnee und Blüten, Schokolade und Wodka, Bier und Äpfel. Tausende Sonnenuntergänge über sanfter Hügellinie, Autofahrten durch dunkle Wälder, morgendliche Spaziergänge zwischen Orangenbäumen bei San Giovanni, geträumte und erhoffte und doch nie Realität gewordene Tänze, Pfeifenrauch und italienischer Kaffee, schmiedeeiserne grün lackierte Gartenzäune, schwere Fliederblüten und entwurzelte Bäume. Ich glaube, die Sohlen meiner längst zerfallenen Lederschuhe am Fußballen zu spüren, während ich hier sitze, in die samtschwarze Nacht hinausstarre, die orangefarben beleuchtete Fassade der Villa Giulia vor mir, und rieche das nasse Herbstlaub, das den Asphalt eines längst vergangenen Gehsteiges bedeckt. Die Vergangenheit weitet sich zu einem Tunnel mit silbrig schimmernden Wänden, an dessen Ende sich scharf umrissene Schatten versammeln und zu mir herüber winken. Ich will die Hand heben, um ihnen Antwort zu geben. Die Finger fühlen sich bleiern an. Unmöglich, sie zu heben. Trotz der klammen Kälte steht Schweiß auf meiner Schläfe. Die Melodie brennt sich in mein Gehirn. Warme Lippen in meinem Nacken. Eine herrlich süße, herrlich schreckliche Stimme murmelt beruhigende Worte. Ein Nachtgespenst. Ich weiß es genau. Und doch schließe ich halb die Augen und lasse es geschehen. Die Schatten warten noch immer. Ein letzter Blick. Dann wende ich mich auf dem Absatz um. Die Lichter der Stadt vor mir. Das Jetzt. Die Welt. Ich fülle meine Lungen mit der frischen Nachtluft, gehe los, meine Schritte schneller, immer schneller. Die Musik verklingt. An der Ecke steht eine junge Frau, an den Zaun gelehnt, und wartet. Meine Augen streifen über ihren schlanken, schönen, zerbrechlich wirkenden Körper. Ein letzter Nachhall der Ewigkeit. Sie sieht mich an. Ich weiß, daß sie es tut. Drehe den Kopf zur Seite. Und gehe weiter.