Sonntagsarabesken #142

Könnte ich Dich lieben? Ohne Dich zu begehren? Wie wäre das möglich? Wäre es überhaupt möglich? Die Stunde ist vorbei, die Minute, in der Du an meiner Seele vorbeigestreift bist, flüchtig und schön, unfaßbar und doch zugleich so greifbar wie nie zuvor und nie danach. Du bist wie ein im Licht verrinnender Schatten, eine Mischung aus Heute und Gestern, eine Göttin zwischen Einst und Jetzt. Unsere Bewegungen, so oft vereint. Ich bin aus Deiner Vergangenheit in meine Zukunft gefallen, oder umgekehrt, Du kanntest mich, in all meinen Details, und wußtest um meine Schwächen, meine unbekehrbare Seite, meine irregeleiteten Sehnsüchte Bescheid. Mit dem wissenden Lächeln einer Sibylle hast Du mich zur Seite geschoben, sanft aber bestimmt. Und jetzt? Geliebt und geträumt und ersehnt; ich habe das Paradies geahnt, den Duft der Ewigkeit gerochen, die Silhouette der Seligkeit gesehen. Deine Milde war Grausamkeit. Deine Geduld nichts anderes als berechnendes Vorausschauen. Zu den traurigen Klängen eines Kaffeehausklaviers hast Du mir das Herz gebrochen; im flackernden Schein schneeumflockter Straßenbeleuchtung hast Du mich in Verzweiflung gestürzt; und an Tagen allzu frühen Tauwetters habe ich Dich gehaßt. Bis die Befreiung und das Erstaunen kamen: Warum nicht früher? Warum konntest Du mir nicht schon früher einfach gleichgültig sein? Oder: Warum bist Du es aber trotz allem nach wie vor nicht? Darin liegt die Ironie der ganzen Geschichte. Darin, und in der Tatsache, daß ich jetzt, Jahre später, die Sonne in einer fremden Stadt genieße, den Herzschlag dieser Stadt spüre, ihren Asphalt unter meinen müden Füßen, ihren Kaffee wie schwarzes Blut in meinen Adern, ihre Launen in meinen Eingeweiden, und wieder an Dich denken muß, obwohl dieses Kapitel doch längst abgeschlossen ist. Doch andererseits bleibt die Erinnerung wach, nagt sich einen Weg durch das Fühlen, bis sie schließlich durch das Fühlen und Begreifen an die Oberfläche stößt. Es sind Melodien und Gerüche, Stimmungen und Gefühle, die lange Zeit durch ein unbewußtes Zusammenspiel Geist und Körper geformt haben; so wie die zerplatzten Orangen im Rinnstein kehren sie zurück, Bilder vor dem inneren Auge, und gewinnen dadurch zwar wieder an Frische, nicht jedoch an Leben. Daran kann nicht einmal die Aura der wundersamen Stadt etwas ändern. Denn tot sind sie. Und werden es immer sein.