Semantische Vollbremsung

Wer sich an meine Ausführungen zu dem Seminaren inhärenten Problem erinnert, dem wird die heutige Episode – eine „semantische Vollbremsung“ – nur als Abwandlung eines bereits bekannten Prinzips erscheinen. Auch diesmal wird die Möglichkeit etwas mitzuteilen durch eine anfangs scheinbar unbedeutende Formulierung eingeschränkt. Die Einschränkung steht diesmal jedoch in völligem Gegensatz zum Zweck und wirkt sich folgenreich auf den weiteren (Diskussions-) Verlauf aus.

In einem Konzept, dessen Ziel die breite Einbindung so vieler User wie möglich in eine fruchtbare Diskussion zu bestimmten Themen ist, wurde vorgeschlagen, die jeweils erste Reaktionsebene auf ein Statement in einem Onlineforum verpflichtend mit einem bestimmten Satzanfang beginnen zu lassen, um zum Thema nicht relevante Threads gar nicht erst aufkommen zu lassen. Mit anderen Worten: Irgendwer schreibt einen Beitrag im Forum und alle, die direkt darauf Bezug nehmen, müssen ihren Kommentar mit einem der beiden Satzteile beginnen:

  • Ich finde [Bezug auf den Beitrag], weil…
  • Ich finde [Bezug auf den Beitrag] nicht, weil…

Diese Einschränkung wird den Diskussionsteilnehmern im Sinne der Regeltransparenz klar und deutlich mitgeteilt, danach, also in der nächsten Ebene, können sie jedoch nach Herzenslust schreiben. Im Ganzen gesehen sieht ein Diskussionsverlauf mit einer ersten Reaktionsebene und dem weiteren Diskussionsverlauf dann in etwa so aus:

  • Statement (Themenvorgabe: Ebene 0)
    • Ich finde [Bezug auf den Beitrag], weil… (Reaktion: Ebene 1)
      • Weitere Diskussion (Ebene 2)
    • Ich finde [Bezug auf den Beitrag] nicht, weil… (Reaktion: Ebene 1)
      • Weitere Diskussion (Ebene 2)

Nun stellt sich mir die Frage, ob eine Diskussion zum Thema in Bezug auf einen Kommentar der Ebene 1 überhaupt möglich ist. Oder anders: Kann man ein Statement unter Berücksichtigung einer persönlichen Meinung, die durch das „Ich finde…“ erzwungen wird, überhaupt noch diskutieren oder wird eine sachliche Diskussion durch das Vorbringen der persönlichen Meinung im Keim erstickt? (Noch weiter gefragt: Macht es Sinn, als solche deklarierte persönliche Meinungen zu kommentieren?)

Meine Meinung ist, dass ein Kommentar, der verpflichtend mit den oben angeführten Satzanfängen beginnt, eine semantische Vollbremsung für jegliche Diskussion darstellt, da sich die Diskussion auf jeden Fall nicht mehr nur um das Statement drehen, sondern die Meinung eines Kommentierenden der Ebene 1 teilweise oder gänzlich zum Inhalt haben wird. Was also passieren wird, ist genau das Gegenteil des Ziels dieser sprachlichen Vorgabe. Die Diskussion wird sich eher weiter vom Thema entfernen!

Wenn also so viele User wie möglich in eine fruchtbare und sachliche Diskussion eingebunden werden sollen, dann wäre es ratsam, diese sprachliche Vorgabe auszulassen, damit nicht schon die ersten paar Worte den weiteren Verlauf der Diskussion bestimmen.

Dennoch würde es mich interessieren, Gegenbeispiele kommentiert oder zugeschickt bekommen, die beweisen, dass eine sachliche Diskussion möglich ist, auch nachdem die erste (Reaktions-) Ebene mit diesem Satzanfang auch inhaltlich in eine Schablone gepresst wurde. Nur zu!