Scrollen am Friedhof – der Herman Cain Freedom Award

Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die das Tragen von Masken und die Verabreichung von Impfungen zum Schutz vor dem tödlichen Ausgang von COVID propagieren, auf der anderen Seite diejenigen, die das nicht nur still ablehnen, sondern öffentlich auftreten, die Krankheit nicht anerkennen („eine Grippe, nicht mehr“) und Maßnahmen wie das Tragen von Masken oder die Impfung verweigern. Das alles natürlich öffentlichkeitswirksam in den sozialen Medien, nicht gerade selten prahlerisch, die Wahrheit gefunden zu haben.

Es war ja klar, dass das Internet das Internet ist und es früher oder später Websites geben würde, die sich des Themas widmen und durch das Coronavirus bedingte Hospitalisierungs- und Todesfälle unter den Masken- und Impfgegnern sammeln und veröffentlichen würden. Dass es dafür bereits einen Namen gibt – Herman Cain Freedom Award (ja, ich habe nachlesen müssen, was es mit Herman Cain auf sich hat) – habe ich erst gestern durch Zufall entdeckt.

Eine Nominierung für den morbiden Award, der an die Darwin Awards erinnert, erhält, wer sich öffentlich gegen das Tragen von Masken/gegen die Impfung ausgesprochen oder COVID als Hoax bezeichnet hat und mit Verdacht auf COVID ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Eine Qualifizierung erhält, wer tatsächlich dann auch an COVID stirbt. Und der Herman Cain Freedom Award ist nicht die einzige Seite, die sich mit dem Thema beschäftigt. Es gibt natürlich weitere, meist US-amerikanisch zentrierte Seiten, die den Kontrast zwischen Impfverweigerung und Tod zum Anlass für ein – nennen wir es, wie es ist – öffentliches Shaming nehmen. Ich habe noch keine Seite gefunden, die den Spieß umdreht und zum Beispiel Geimpfte, die an COVID gestorben sind, an den Pranger stellt. Aber das Internet ist das Internet und auch das wird es wohl früher oder später irgendwo geben.

Auch wenn diese Seiten oftmals Unangebrachtes hervorbringen, lohnt es sich meiner Meinung nach, die Postings und Beiträge zu überfliegen. Jason Kottke hat die Auflistung der Toten eine „sobering collection“ genannt und ja, es ist mehr als ernüchternd, wenn einem nach ein paar Bildschirmseiten des initial von düsterer Schadenfreude getriebenen Scrollens das Schicksal und die Tragik menschlicher Hilflosigkeit (gegenüber der Krankheit, der Unmenge an Falschinformation, sozialer Zwänge oder persönlicher Ausweglosigkeit) bewusst wird. Ich habe selten, wirklich sehr selten, beim Scrollen auf eienr Website das Gefühl bekommen, mich auf einem Friedhof voller Mahnmale zu befinden. Und doch geschieht das auf reddit, auf fuckedantivaxxer und anderen Seiten, die Coronatote und deren Postings gegen die Maßnahmen, die wahrscheinlich ihren Tod hätten verhindern können, zusammen anzeigen.

Interessant ist dabei, wie diese Mahnmale – technisch gesehen, nichts anderes als einzelne Beiträge in einer langen Liste – funktionieren. Auf einem Grabstein oder einer Parte steht vielleicht soetwas wie „nach langer (oder kurzer) schwerer Krankheit“ oder „nach einem tragischen Unfall“, immer aber wird den Toten verziehen (die eigentliche, letzte Ehre). Man liest praktisch nie, man hätte den 25-jährigen immer gewarnt, nicht zu schnell mit dem Motorrad zu fahren, oder die 40-jährige immer und immer wieder zur Therapie eingeladen, bevor sie sich eine Überdosis verpasst hat. Todesfälle werden nahezu immer in einem fast schon romantisierten Kontext präsentiert und es herrscht stille Übereinkunft darüber, über die Schuldigkeit der Toten an ihrem Tod weder zu sprechen noch ihre Einstellungen und ihr Handeln zu Lebzeiten in die zum Tod führende Kausalkette mit aufzunehmen. Er war „abenteuerlustig“, heißt es da, und nicht „völlig durchgedreht mit 270km/h auf der Landstraße unterwegs“. Sie war „ein Freigeist“, liest man, und nicht „täglich ihre und die Gesundheit Anderer gefährdent zugedröhnt“. Schönreden ist ein vielpraktizierter Begriff in der deutschen Sprache.

Auf den oben genannten Seiten, allerdings, wird diese Romantisierung durchbrochen und das Schönreden erschwert, denn die „Nominierungen“ und „Qualifikationen“ sind mit Screenshots, meist Tweets oder Facebook-Statusupdates, belegt. Wo man beim Scrollen durch diesen Friedhof kurz innehält und gedanklich schon mit dem Schönreden beginnt, werden einem teils aggressive, teils ahnungslose, oft von irriger Überzeugung getriebene Statements der Verstorbenen entgegengesetzt. Das ein wenig mit dem Uncanny Valley vergleichbare Gefühl, das einen befällt, entsteht, weil die Ratio, befeuert mit den Inhalten der Screenshots und der darauf lesbaren Statements, an einem Ort zum Einsatz kommt, an dem man normalerweise die Emotion vermuten würde. Dieser Zustand ist eine interessante Erfahrung und es ist in meinen Augen treffend, dass Choire Sicha das Aufeinanderprallen von Ratio und emotionaler Reaktion im New York Magazine mit „Empathy Wars“ betitelt hat.

Man betrachtet diese Mahnmale, sieht die Screenshots und liest die Statements der nunmehr Toten; und Erziehung, Moralvorstellungen und eine grundsätzlich humanistische Einstellung versuchen mit aller Kraft den Gedanken des „Selbst schuld!“ außer Denkweite zu bringen, den Zusatz „Kein Mitleid!“ gar nicht erst zuzulassen, und wie auch immer nur möglich, Empathie für die armen Teufel aufkommen zu lassen. Doch das mag nicht so recht gelingen. Schließlich wurden sie gewarnt, sie hatten jede Möglichkeit, Vorkehrungen gegen einen tödlichen Ausgang der Krankheit und noch viel mehr, gegen eine Infektion mit der Krankheit zu treffen. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Und so scrollt man durch diese Seiten, staunt darüber, dass in manchen Fällen die überlebenden Verwandten immer noch die Existenz der Krankheit oder die Wirksamkeit der Impfung leugnen und denkt sich seinen Teil. Es ist Samstag, der 21. August 2021. Seit 527 Tagen befinden wir uns in der Corona-Pandemie. Auch wenn das einige nicht glauben mögen.

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