Polens Prämierminister Donald Tusk spart nicht mit harter Kritik am Selbstbild Europas, das den (militärischen) Fakten so gar nicht entspricht.
Hear for yourself how it sounds: 500 million Europeans begging 300 million Americans to defend them from 140 million Russians. […] If you can count, count on yourself. Not in isolation, but with full awareness of your potential. Today, in Europe, we do not lack economic strength, people, but the belief that we are a global power.
Donald Tusk
Europas militärisches Potential dürfte respektabel sein. Im Vergleich zu Russland kann Europa mit mehr als doppelt so vielen Soldaten und Kampfflugzeugen, und mit deutlich mehr Artillerie aufwarten. Dennoch, hier gebe ich Donald Tusk recht, nehmen wir uns hier in Europa so gar nicht wehrfähig wahr, ganz im Gegenteil: wir schlafen, sozusagen. Und das, so Tusk, ist auf der einen Seite eine Entscheidung und kein Schicksal, auf der anderen unsere größte Schwäche. Solange wir eine Säule des Staatswesens dämonisieren – er spricht von Militär, Verteidigung und (Rüstungs-) Industrie – bleiben wir schwach.
Doch warum tun wir das, fragt Daniel McCarthy in der New York Post. Warum hat Europa so dermaßen große Berührungsängste mit allem, was die Verteidigung des Kontinents angeht? Warum geht diese Ablehnung gegenüber der Wehrhaftigkeit so weit, dass Europa sogar Verbrechen innerhalb Europas zulässt und auf sich anbahnende Gefahrensituationen (von außen wie auch im Inneren) nicht reagiert. McCarthy sieht die Antwort auf diese Fragen im Fehlen von Patriotismus, Nationalismus oder wie auch immer man nationalen Stolz definieren will. Nicht aber, weil dieser nicht existieren würde, sondern viel mehr, weil er nicht gelenkt oder zugelassen wird. Er verortet das Problem in der Politik seit dem Fall der Beliner Mauer, die Berührungsängste zu den für die militärische Verteidigung notwendigen und in der Bevölkerung sehr wohl existierenden Kräften, hat.
Wenn man sich durchliest, was so alles in Europa ohne großen Widerstand und ohne Maßnahmen dagegen geschehen ist, wundert es nicht, dass McCarthy zu solchen Schlussfolgerungen kommt. Fast wirkt es, so meint er mittendrin, als ob europäische Politik einer suizidalen und antiwestlichen Ideologie folge, indem sie alle traditionell gültigen Quellen nationaler Stärke dämonisiert und gezielt gegen sie ankämpft. Religion, Patriotismus und die (hierfür notwendige) industrielle Basis, sind die Feindbilder europäischer Politik. Und so entwickelt sich eine kontinuierlich in der politischen Arbeit perpetuierte Ablehnung gegen den Grundpfeiler der militärischen Verteidigung. Auch wenn damit eine Art Identitätsverlust einhergeht oder die Selbstwahrnehmung mehr und mehr von der materiellen Realität abweicht, wie das den Artikel eröffnende Zitat von Donald Tusk beweist.
Western European leaders can’t claim […] Putin surprised them with his full-on invasion of Ukraine in 2022. He’d already grabbed Crimea eight years earlier and set up pro-Russian secessionist militias in Ukraine’s Donetsk and Luhansk regions. Russian assassins even targeted dissidents in England, poisoning and killing Alexander Litvinenko in 2006 and attempting to do the same to Sergei and Yulia Skripal in 2018. […] Islamist terrorism did little to awaken the continent’s slumbering leaders, who continued to treat citizens calling for immigration restriction as the real enemy. […] Green parties and environmentalists emphasized fighting climate change over readiness to fight wars. Patriotism was treated as synonymous with xenophobia and the worst kinds of nationalism — with which Europe certainly had plenty of experience. […] European elites up to now have not only been cheapskates when it comes to military spending, they found the very existence of their countries’ armed forces distasteful.
Daniel McCarthy
Ich kann mich, regelmäßige Leserinnen und Leser hier wissen das, immer wieder an Stimmen erfreuen, die – zumindest gefühlt – weniger populäre Meinungen vertreten. Das Argument, Europa solle dem Nationalismus doch ein wenig Platz einräumen, um (militärisch) wieder handlungsfähig zu werden, ist natürlich ein brennendes Streichholz, das auf ein Pulverfass zufliegt.
Und doch ist das Argument nicht von der Hand zu weisen, wenn man sich ansieht, wie in den letzten Jahren in Europa gewählt wird, welchen Kräften politische Macht zuteil wird, und wie sich die Erzählungen über und die Erklärungen für verschiedene Ereignisse in der politischen, der medialen und der Sphäre außerhalb der geregelten Medien entwickeln.
Wenn der polnische Prämierminister meint, Europas Abwärtsspirale sei eine Entscheidung (und kein Schicksal, muss man ergänzen), was sagt er dann eigentlich? Was soll so eine Aussage erwecken, wen erwecken? Welchen Geist holen wir aus der Flasche, wenn wir das Ventil zu Nationalismus und militärischem Stolz (ein wenig) öffnen? Wie definiert sich im Anschluss dann das Selbstbewusstsein, eine „global power“ zu sein, welche Auswirkungen würde das haben? Das vorhin etablierte Bild des auf ein Pulverfass zufliegenden Streichholzes hält.