Gestern 30, morgen 40

Aus Anlass eines Geburtstags, vor allem aber aus Anlass einer Scheinwelt, die Alter zu einem Problem macht anstatt dessen persönlichkeitsbildende Eigenschaft festzustellen.

Eine Rede, die ich nicht gehalten habe.

Ein Jahr ist um und du beklagst, dass du in ein paar Wochen 30 Jahre alt wirst? Oder 40? Gar 50? So wenig Zeit, so viele Pläne? Familie hättest du gerne, aber du schaffst es nicht einmal, eine Freundschaft zu pflegen? Bist überzeugt, dass es die Welt schlecht mit dir meint und verkriechst dich im Umfeld deiner Eltern, Geschwister, Freunde und Verwandten? Bitte hör auf damit! Hör auf zu jammern und richte deinen Blick in die Vergangenheit! Alles, was du dort siehst, hat dich bis zu diesem Moment begleitet, in dem du dich jetzt befindest. Wenn du dir deine Vergangenheit ansiehst, siehst du da wirklich noch Gründe, dein Altern in einem so schlechten Licht zu präsentieren? Es als etwas Schlimmes, Verabscheuungswürdiges, dir Schadendes, Negatives, als quasi unvermeidbares, unausweichliches Schicksal darzustellen? Sei bitte nicht lächerlich und hör auf damit! Am besten, du ersparst es uns allen, nach billiger Aufmerksamkeit zu heischen, die du ohnehin nicht verdienst. Wenn du ein Problem mit deinem Alter hast, dann ist das kein Selbstzweck. Und, ganz offen gesagt, es interessiert auch niemanden. Am Ende bist du ohnehin selbst schuld, wenn du alles bisher Geschehene nicht unter dem Motto Carpe Diem, sondern im Wahn des YOLO gelebt hast.

Du stellst am Donnerstag schon prahlerisch die Frage, wohin es dich wohl dieses Wochenende verschlagen wird? Du bringst am Freitag bereits den Alkohol mit ins Büro? Am Samstag wachst du am Nachmittag auf und findest dich am Sonntag in einem fremden Bett wieder? Mag schön sein, aber nur in einem sehr begrenzten, vor allem aber nicht nachhaltigen Ausmaß, denn Familie ist mehr als schweißnasse Bettdecken und Kuscheln mit einer Person, die du vor weniger als 24 Stunden kennengelernt hast. Das Bedürfnis ist klar, seine Umsetzung scheint dir aber fremd zu sein: Liebe, Geborgenheit, Zuneigung und die Sehnsucht nach jemandem, von dem du weißt, dass sie oder er hinter dir steht und zu dir hält. Ach, was für konservatives Geplapper, was für überkommene Vorstellungen! Okay, meinetwegen, ich akzeptiere deine Kritik. Wenn du nicht mehr unverwundbar bist und dich eine Krankheit ans Bett fesselt, dann wirst du sehen, was ich meine. Wer von deinen Liebschaften wohl dann vorbei kommt…?

Du weißt all das, dir ist alles bewusst. Du beschimpfst Menschen, die sich für die Sesshaftigkeit entscheiden und stellst ihre Vorstellungen eines Lebens als „Tod auf Erden“ dar, zwängst dich in die immer enger werdende Kleidung deiner frühen Zwanziger und ignorierst, dass der Altersunterschied zum Publikum in den Lokalen, in denen du Woche für Woche abhängst, größer und größer wird. Und dennoch gelingt es dir nicht, den nächsten Samstag ohne die immer kleiner werdende Gruppe von „Freunden“ zu verbringen. Ihr lästert gemeinsam über A, der zu früh ein Kind gezeugt hat; über B, die sich „in diesem jungen Alter“ schon verheiratet und für ein Leben zuhause entschieden hat; über C, der immer konservativer geworden ist, bis er euch die Freundschaft aufgekündigt hat; und über D, die sonntags nicht mehr betrunken am Tisch tanzt, sondern das Familienessen anrichtet und Wert darauf legt, dass alle Familienmitglieder dabei sind. Entscheide dich! Sei dir im Klaren darüber, dass auch deine Tage früher oder später gezählt sind, deine Jugend dahin, deine Energie von deinem lächerlichen Job aufgefressen. Ja, hab Angst vor dem Alter, denn es zwingt dich dazu, dir selbst ins Gesicht sehen zu können. Es zwingt dich dazu, mit deinem Leben, deinem Verhalten und der Zeit, die dir gegeben wurde, abzurechnen. Du rennst deinem Jugendtraum nach? Wach auf, dein halbes Berufsleben ist bald vorbei, greife nach den Möglichkeiten, die dir die Realität bringt. Den Schönling deiner pubertären Kindheitsträume wirst du nicht mehr finden, die Grazie, an der du dich so gerne sattsehen würdest, die du in deinen Träumen angehimmelt hast, ebensowenig.

Du kannst ein verschwenderisches und wenig ereignisreiches Leben geführt haben. Oder du hast unter Schicksalsschlägen gelitten und sehr viel Pech gehabt. Du kannst vor Gewalt geflohen sein oder du hast deine Tage im Café verbracht. Du hast eine Familie gegründet, Verantwortung übernommen und genießt nun die Früchte deiner Arbeit, für die du gekämpft und für die du dich entschieden hast. Oder du hast dich in den letzten Jahre Wochenende für Wochenende einlullen, flachlegen und von irgendjemandem benutzen lassen; warst Fleisch und nicht Person, ohne, dass dir das jemals aufgefallen ist. Noch ist alles in Ordnung, noch ist nichts passiert. Aber es wird der Moment kommen, an dem dir die Illusion sicherer Fahrt auf der Achterbahn deines Lebens durch eine schreckliche Nachricht genommen wird. Oma ist tot. Vater hat einen Oberschenkelhalsbruch. Schwester hatte einen Autounfall. Du selbst entscheidest hier und jetzt, ob du in diesem Moment in fremde Laken heulen musst oder ob du dir Kraft aus deiner eigenen Familie holen kannst. Du selbst bestimmst Tag für Tag, ob du für deine Eltern, Geschwister und Freunde – für deine Familie! – Last oder Stütze sein wirst.

Aber eigentlich brauchst du dich gar nichts zu fragen, nirgendwohin zurück zu blicken, nichts zu revidieren oder sonst irgendetwas zu tun, denn du weißt die Antwort auf all die oben gestellten Fragen bereits. Du hast sie schon gewusst, noch bevor ich all die Dinge überhaupt angesprochen habe. Deine innere Stimme hat dir, während du bis hierher gelesen hast, bereits mitgeteilt, was sie von dir hält. Und du weißt, dass all die vorgeschobenen Gründe, mit denen du dir und den Menschen, die du Freunde nennst, dein Leben rechtfertigst, Lügen und Blendung sind. All die lächerlichen Befindlichkeiten, all die unnötigen Problemchen. Das ist alles irrelevant. Du selbst bist das Problem! Du lügst, du betrügst, du führst hinters Licht. Du denkst selektiv, hast Vorurteile und bist, alles in allem, ein schlechter Mensch. Da helfen dir all deine intellektuellen Konstrukte, die deine Situation rechtfertigen, gar nichts. Nimm es, wie es ist: Du hast ein Problem mit dir selbst (und das ist ja augenscheinlich). Ja? Dann korrigiere dich selbst. Denn du weißt, wie es sich anfühlt, wenn du ehrlich bist, wenn du größere Strapazen auf dich nimmst als es andere tun. Du weißt, dass du den Dingen auf den Grund gehst, fleißig sein kannst und im Großen und Ganzen ein guter Mensch bist. Du musst dir nur eine Frage stellen: Warum betonst du deine positive Seite nicht, sondern vegetierst in der anderen dahin? Warum meidest du die Anstrengung und lässt dich gehen, anstatt aufzustehen und diese, deine inneren Werte, zu vertreten und für sie zu kämpfen? Warum scheiterst du andauernd? Warum hörst du nicht auf deine innere Stimme, wenn du dir am Sonntagmorgen in fremden Badezimmern die Zähne putzt? Warum ignorierst du sie, während du am Samstagabend die zweite Flasche Wein öffnest? Warum übertönst du sie, wenn sie sich Freitagnacht bei dir meldet und auf die Jahre verweist, in denen du schon nach all dem suchst, was dir jetzt, da du 30, 40 oder 50 wirst, noch immer fehlt? Facebook hilft nicht, WhatsApp ebensowenig. Also tu etwas!

Besserung wird dir nur gelingen, wenn du auf deine innere Stimme hörst. Sie ist es, die dich mahnt und dir Richtlinien erteilt und das auch kompromisslos tun darf, auch wenn du erkennst, dass dein konservatives Äußeres Hülle für einen liberalen Menschen ist – oder umgekehrt. Die Stimme verfolgt für gewöhnlich das Prinzip des Carpe Diem ganz gut und versucht, dein Handeln danach auszurichten; sie ignoriert deine Idiotie des YOLO, das dich, konsumgestützt, um so viel deiner Lebenszeit gebracht hat. Sie urteilt hart, aber sie ist die letzte ehrliche Meinung, die dir bleibt, denn was dir die Menschen, die du Freunde nennst, sagen, ist wertlos. Wären es nämlich wirkliche „Freunde“, dann befändest du dich jetzt nicht in der Lage, über dein Leben trauernd nachdenken zu müssen. Was bleibt ist also dein innerer Kompass, deine innere Stimme. Und wenn ich von dieser Stimme spreche, dann meine ich nicht dein Gewissen, einen Gott oder irgendeine andere Ableitung einer moralischen Instanz, die du anrufen und der du deinen Bullshit erzählen kannst, nein, ich spreche von der Stimme, die dich seit jeher begleitet und die du zu ignorieren gelernt hast. Du ignorierst sie, obwohl du weißt, wie recht sie hat. Du kannst dich nicht gegen sie wehren. Sie ignoriert dein Alter, dein Geschlecht, deine Religion, deine momentan „schwierige Situation“ und wenn du ihr mit „it’s complicated“ kommst, verachtet sie dich noch mehr als sie es ohnehin schon tut. Alles, was du an äußeren Einflüssen zur Rechtfertigung deiner Lebenslüge an Argumenten produzierst, ist ihr egal. Sie urteilt hart. Sie ist der letzte dir verbleibende Freund.

Du hast ja auch keinen Spielraum, den du dir woanders vielleicht erarbeitet hast. Denn bei der Frage nach einem glücklichen Leben gibt es keinen Graubereich, kein Herumreden, kein Argumentieren und kein Ausweichen. All die Lügen, mit denen du verzweifelt dein Leben erklärst, interessieren dein Inneres nicht, denn es kennt dich besser als du selbst. Es weiß über dich und deine Umstände bescheid. Deine innere Stimme weiß, dass die Zeit läuft und dass du schon bald in ihr verbrennen wirst. Es liegt alleine in deiner Verantwortung, mit der dir verbliebenen Zeit gut umzugehen. Es ist deine Entscheidung, ob du den Tag nützt oder ob du ihn vernichtest und dabei „YOLO!“ rufst. Niemand wird dir dabei helfen, glücklich zu sein. Niemand, solange du alles, was du tust, aufs Erreichen deines persönliches Wohls auslegst. Der Einkauf bei Zalando, Amazon oder in sonst einem abgedroschenen, mit bunten Bildern aufgemachten Shop; die Spritze gegen Falten hier, die Stunden im Fitnesscenter dort. – Alles Bullshit. In der Nacht vor deinem Geburtstag wird dir das Jahr für Jahr wieder schmerzlich bewusst.

Doch du bist nicht allein. So viele stützen sich auf Freunde, die keine sind, weil sie sich nicht in die Pflicht von Freundschaften einlassen wollen. Freundschaften begründen Pflichten? Ja, Depp, natürlich! Freundschaft bedeutet Arbeit; oftmals unangenehme, Dinge ans Tageslicht bringende Arbeit. Zu sagen, was so viele hören wollen, ist Verachtung und Desinteresse, nicht Freundschaft und Rat. Wenn du deine Freunde nach dem Kriterium der Zustimmung zu deiner Weltsicht aussuchst, hast du ja ohnehin keine Freunde mehr. Jeder, der dir sagt, was für ein Trottel du bist, sollte dir mehr wert sein als die Schmeichler, die dich andauernd loben. Wach endlich auf! Deine innere Stimme müsste dir doch längst schon mitgeteilt haben, dass an dem uneingeschränkten Zuspruch, denn du von allen Seiten bekommst, etwas nicht stimmen kann. Und da gröhlen sie alle, rund um dich herum, besoffen wie die Matrosen, nachdem sie an Land gegangen sind.

Du hast gefeiert, hast es hinter dich gebracht, dein Geburtstag war großartig! Die Galerie, die du angemietet hat, die Snacks, die du bestellt hast, die Musik, die du ausgewählt hast, die Personen, die du eingeladen hast, ein voller Erfolg! Du hast es geschafft, so schlimm war es doch gar nicht. Wäre da nicht der nächste Morgen gewesen. Die paar Sekunden, in denen du innehalten musstest, weil dein schönes Gesicht vom Rauchen, Trinken und von nicht erfüllten Wünschen unansehnlich und zur Fratze geworden ist. Und diese Fratze hat dich angestarrt und dich an das Feuer, in dem du verbennst, erinnert: Carpe Diem!