Es ist Ironie, was sich da auf der Job-Bewerbungsseite von Anthropic, dem Unternehmen hinter der Claude-KI, abspielt. Bewirbt man sich dort für eine der offenen Stellen, stößt man im Bewerbungsprozess auf den folgenden Absatz.
While we encourage people to use AI systems during their role to help them work faster and more effectively, please do not use AI assistants during the application process […] We want to understand your personal interest in Anthropic without mediation through an AI system, and we also want to evaluate your non-AI-assisted communication skills. […] The inherent hypocrisy here highlights the precarious doublethink corporations like Anthropic must maintain around AI’s role in the workplace these days. LLMs are amazing tools that can supercharge employee productivity and help them communicate difficult concepts more effectively […] but also, employees who rely on AI tools might be hiding some personal deficiency that we should know about.
Ars Technica
Tja. Wer hätte gedacht, dass Künstliche Intelligenz nicht zur Verbesserung von ohnehin schon Gutem dient, sondern – das stelle ich in den Raum und warte geduldig, bis ich vom Gegenteil überzeugt werde – größtenteils dem Kaschieren von Unfähigkeit bzw. Unvermögen? Wer hätte jemals auf die Idee kommen können, dass die Evaluierung einer Bewerbung, die mittels Künstlicher Intelligenz verfasst oder zumindest angereichert wurde, letzten Endes die Fähigkeit des Kandidaten oder der Kandidatin, halbwegs passable Prompts zu verfassen, prüft und nicht Wissen über die der Person innewohnenden Überzeugungen, sowie die daraus erwachsenden Argumente erlangt?
Warum will Anthropic von KI freie Bewerbungsunterlagen, wenn das Unternehmen gleichzeitig Werbung für Skillfully macht, ein Recruiting-Startup, das KI einsetzt, um Kandidaten zu bewerten. Da läuft etwas schief im Dogfooding. Ars Technica spart nicht mit Spott und Hohn:
Anthropic’s customers page […] highlights AI recruitment startup Skillfully, which it says uses Claude to „identify candidates on the basis of demonstrated skills…“ […] „Traditional hiring practices face a credibility crisis,“ Anthropic writes with no small amount of irony when discussing Skillfully. „In today’s digital age, candidates can automatically generate and submit […] perfectly tailored applications with the click of a button, making it hard for employers to identify genuine talent beneath punched up paper credentials. […] Employers are frustrated by resume-driven hiring because applicants can use AI to rewrite their resumes en masse,“ Skillfully CEO Brett Waikart says in Anthropic’s laudatory write-up. […] Wow, that does sound really frustrating! I wonder what kinds of companies are pushing the technology that enables those kinds of „punched up paper credentials“ to flourish. It sure would be a shame if Anthropic’s own hiring process was impacted by that technology.
Ars Technica
Wer vermittels der freieren Beantwortungsmöglichkeiten im Bewerbungsprozess etwas über seine Kandidatinnen und Kandidaten erfahren will ohne auf zeitraubende Interviewprozesse und Bewerbungsgespräche setzen zu müssen, stellt auch offene Fragen, wie zum Beispiel, warum man im eigenen Unternehmen denn arbeiten wolle. Die von einem Kandidaten oder einer Kandidatin ohne Hilfe von Künstlicher Intelligenz verfasste Antwort lässt Einblicke zu, die die KI-generierte Antwort verdeckt, da das Schreiben immer auch eine innere Reflexion ist und so den Standpunkt, die Einstellung zum Thema und andere Marker menschlicher Kommunikation, die wir ganz selbstverständlich mitlesen im Text transportiert.
The discrepancy has to do with the point of human-authored writing itself. More than just a utilitarian way to get information across, most pieces of writing also provide a crucial window into the author’s feelings, beliefs, and thinking process. These are the things a recruiter is trying to glean from a written answer on a job application, and also the kinds of things that can be obscured by the use of homogenizing AI tools. […] A company that fully understands the inevitability (and undetectability) of AI-assisted job applications might also understand that a written „Why I want to work here?“ statement is no longer a useful way to effectively differentiate job applicants from one another.
Ars Technica
Fassen wir also noch einmal zusammen, womit Tech-Unternehmen wie Anthropic und sicherlich auch viele andere seit der weitläufigen Verfügbarkeit von Künstlicher Intelligenz im Bewerbungsprozess zu tun haben. (Und sicherlich auch in vielen anderen Prozessen. Aber bleiben wir einmal bei Bewerbungen.) Ein Drama in 5 Akten.
- Tech-Unternehmen entwickeln Künstliche Intelligenz und bewerben sie lautstark als Werkzeug, um die Besten noch besser zu machen und die Arbeitseffizienz zu steigern.
- Tatsächlich aber nutzen die Schlechtesten das neue Werkzeug, um ihr Unvermögen bzw. ihre Unfähigkeit zu kaschieren und so Zugang zu Positionen zu erhalten, die ihnen vormals unerreichbar schienen.
- Die Folgen für die Unternehmen sind unschön, da etablierte (Bewerbungs-) Prozesse vor neue Herausforderungen gestellt werden, wirklich gute Leute von KI-kaschierten Blendern unterscheiden zu müssen.
- Das, was früher herausfordernd gewirkt hat, offene Fragen nämlich, die schnell klar werden lassen, ob ein Kandidat oder eine Kandidatin nur so tut als ob oder ob tatsächlich etwas hinter dem aufpolierten Bewerbungsschreiben steckt, können nun mittels KI beantwortet werden. Somit ist das Knock-Out-Kriterium „offene Frage“ seiner Wirkmacht enthoben, fällt weg und verursacht nur noch homogenisierten Bewerbungsbrei.
- Deshalb müssen Unternehmen nun auf langwierige, vor allem aber auf personalintensive, weil persönliche Gespräche und Interviews setzen, um herauzufinden, wie eine Kandidatin oder ein Kandidat tickt. Etwas, das ihnen zuvor die offenen Fragen in einem Bewerbungsprozess zumindest in großen Teilen abgenommen haben.
Wo, frage ich euch jetzt, ist da die Arbeitsersparnis, die eine Technologie für gewöhnlich mit sich bringt bzw. bringen soll? In Wirklichkeit passiert hier etwas, das wir so ähnlich aus dem Bildungswesen kennen.
Lehrerinnen und Lehrer niedrigerer Schul- und Bildungsstufen winken auch minder bemittelte Schülerinnen und Schüler der Ruhe oder anderer Gründe wegen nach oben hin durch, wodurch die bestimmte Karrieren beendenden Knock-Outs später, wenn nicht sogar zu spät, um ein Berufs- und Ausbildungsleben in eine andere Richtung zu lenken, erfolgen. Das macht das Schulsystem konsequent wirkungsloser, ineffzienter, vor allem aber unglaubwürdiger, zerstört die sich darin befindlichen Individuen (Kinder oder Menschen, die zu einem späteren Zeitpunkt Weiterbildungen angehen), die, hätte man sie früh genug wissen lassen, dass sie für den einen oder anderen Bereich weniger geeignet sind, noch genügend Zeit gehabt hätten, ihre Karriere in andere Bahnen zu lenken, und bürdet dem Ende der Ausbildungskette, den Arbeitgebern also, unnötigen Mehraufwand auf, prüfende Evaluierungen der Sachkenntnisse (und Einstellungen) von Kandidaten und Kandidatinnen, also das, was im schulischen Kontext eine Prüfung gewesen wäre, auf eigene Kosten nachzuholen.
Wenn sich also ohnehin alles am Ende beim Arbeitgeber ansammelt, wozu dann so viele Jahre im Bildungswesen verbringen? Wozu, um nun wieder den Konnex zur KI in offenen Fragen herzustellen, überhaupt noch persönlich bewerben, wenn eine Künstliche Intelligenz die Arbeit übernehmen kann und tatsächlich hunderte, wenn nicht tausende Bewerbungsschreiben an ebenso viele Unternehmen schicken, somit also nicht mehr nur die „offenen Fragen“ umgehen kann, sondern sogar den manuellen Auswahlprozess ad absurdum führen?
Viele unserer Tätigkeiten, nein: Alle unsere Tätigkeiten sind mehr als die Essenz der Aktion selbst. Einen Job auswählen beinhaltet eine gewisse emotionale oder von sonstigen Interessen geleitete Bindung an das den Job ausschreibende Unternehmen. (Geht mit automatisierter KI-Bewerbung verloren.) Diese oder jene Worte nutzen und diesen oder jenen Standpunkt in die Bewerbung mit einfließen zu lassen, transportiert Positionierung und zumindest Teile des Wertesystems einer Person. (Geht auch mit automatisierter KI-Bewerbung verloren.) Wenn also all diese Dinge mit automatisierten KI-Bewerbungen (oder „von Künstlicher Intelligenz gestützten Bewerbungen“) verloren gehen, sollte man dann nicht den ganzen Prozess in Frage stellen und nicht nur den einen Punkt (offene Fragen)? Wie immer prallt hier die zähe Praxis der Anpassung mit der technologischen Entwicklung nicht einmal mehr aufeinander, weil die eine sehr weit fortgeschritten ist, während die andere den Schock des vorletzten, technologischen Sprungs (was auch immer das gewesen sein mag) noch nicht verarbeitet hat.