Das Volkstheater hat vor ein paar Tagen Éric Vuillards „Die Tagesordnung“ mit dem Beisatz „Lesung und Live-Stream gegen Rechtsextremismus“ veranstaltet und bekannte österreichische Schauspielerinnen und Schauspieler gewinnen können, die 16 Kapitel des Buches in etwas über drei Stunden vorzutragen.
Worum geht es in Éric Vuillards „Die Tagesordnung“? Das Volkstheater hat den Inhalt auf der Veranstaltungsseite zur Lesung zusammengefasst.
Im Februar 1933 folgten 24 hochrangige Vertreter der Industrie der Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring und trafen Adolf Hitler in einem geheimen Treffen […] Denn „mit der Instabilität des Regimes müsse nun endlich Schluss sein; die Wirtschaftstätigkeit verlange Umsicht und Entschlossenheit“, lässt Éric Vuillard Göring […] sagen. […] „Dieses Treffen vom 20. Februar 1933, in dem man einen einmaligen Moment der Arbeitgebergeschichte sehen könnte, ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis, ist für die Krupps, die Opels und die Siemens nicht mehr als eine alltägliche Episode des Geschäftslebens, ein banales Fundraising“, schreibt Vuillard.
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Ich kannte das Buch nicht, habe aber erst unlängst über die Vor- und Nachteile des Anhörens von Büchern geschrieben, also habe ich, anstatt schon wieder irgendeine Netflix-Serie, die ich ohnehin schon kannte, nebenbei laufen zu lassen, die YouTube-App am Fernseher gestartet, mich durch 30 Sekunden Werbung, die man nicht überspringen kann, gequält, um mir dann die Lesung der Tagesordnung zu Gemüte zu führen.
Die Leserinnen und Leser lesen vor und bringen nur angenehm wenig Drama in ihre jeweilige Performance. Das ist gut. Der Inhalt kann für sich wirken; und das tut er auch. Dass alles, was in dem Buch geschieht, tatsächlich wie „Tagesordnung“ wirkt, macht die Sache umso bedrückender. Nichts, nicht ein einziges Mal, gibt es ein Highlight, das man erwarten würde, obwohl das, was da passiert, von der Geschichte als solches, ein Highlight nämlich, charakterisiert werden wird. Nichts, was gesagt, wie gehandelt, was beschlossen oder präsentiert wird, regt irgendwen der handelnden Personen auf, lässt jemanden skeptisch werden oder auch nur einen weiteren Gedanken an der Sache verschwenden, der über den nächsten Quartalsbericht hinausgeht. Die Tagesordnung lässt Hitler nicht als den Dämon erscheinen, als den ihn die Geschichte kennt, sondern als… Gelegenheit.
Angesichts der aktuellen politischen Situation in Österreich und der Welt ist es wieder an der Zeit, ein Zeichen zu setzen! […] „Die Tagesordnung“ erzählt ein verschämt verräumtes, aber folgenschweres Detail der deutsch-österreichisch Geschichte: einem geheimen Treffen hochrangiger Vertreter der Industrie mit Adolf Hitler im Februar 1933. Höchste Zeit, Éric Vuillards Buch vor einer größeren Öffentlichkeit zu lesen. […] Vuillard zoomt heran auf die Gesichter und Geschichten der Männer, die den Diktator Hitler unterstützen, die Krieg und Holocaust letztendlich möglich machten, finanzierten und davon profitierten. […] Das Buch zeigt eindrücklich, wie kompatibel die Interessen der Großindustrie mit der faschistischen Ideologie sein können.
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Nach etwa neunzig Minuten Lesezeit gibt es eine Pause der Vorstellung, man kann also Snacks und Getränke holen, die Toilette aufsuchen, ein Telefonat führen und sich anderen Dingen widmen, die die Banalität der Normalität darstellen. Oder man kann das Gehörte verdauen und mit der Verarbeitung der Inhalte beginnen. Oder die Gelegenheit nutzen, um sich das Video auf YouTube in zwei Teilen anzusehen. (Die Ironie, etwas, das man anhört auf YouTube zu sehen, zeigt, dass es nicht nur der Begriff des Podcasts ist, der einem Wandel unterzogen wurde.)
Das Buch zu lesen oder sich die Lesung anzusehen, ist auf jeden Fall drei Stunden der eigenen Zeit wert und dabei zuzusehen (bzw. hören), wie Industrielle große Summen an die politische Führung zahlen, weckt Erinnerungen. Für die einen wird es ein spannendes Stück der Geschichte sein, das die Umstände, die zum Zeitpunkt des Geschehens keine außergewöhnlichen waren, in anderem Licht erscheinen lässt. Andere werden daran arbeiten müssen, die im Roman dargestellte, fast schon unerträglich banale Normalität mit dem, was sie über diese schicksalshaften Jahre an Wissen verfügen, miteinander in Einklang zu bringen. Und gleich wird es auch einer dritten Gruppe von Adressaten dieser Lesung gehen, der es schwer fallen wird, die mahnende Intention des in der Lesung vermittelten Inhalts mit den gegenwärtigen Geschehnissen in Verbindung zu bringen.
Es lohnt sich, die Lesung anzusehen bzw. anzuhören, auch wenn es nur dem Check der eigenen Positionierung zu damals, zu heute, oder zur Anerkennung impliziter Anklagen geht.