Nimm an der Beerdigung teil!

Ihr Vater zwang Deirdre Sullivan, an jeder Beerdigung teilzunehmen, zu der sie eingeladen war. Jahre später kam ihr die Erleuchtung, was das eigentlich bedeutete.

Deirdre Sullivan erkennt die wahre Bedeutung hinter der Anweisung ihres Vaters, „immer an der Beerdigung teilzunehmen“.

„Always go to the funeral“ means that I have to do the right thing when I really, really don’t feel like it. […] I’m talking about those things that represent only inconvenience to me, but the world to the other guy. You know, the painfully under-attended birthday party. The hospital visit during happy hour. The Shiva call for one of my ex’s uncles. In my humdrum life, the daily battle hasn’t been good versus evil. It’s hardly so epic. Most days, my real battle is doing good versus doing nothing.

Deirdre Sullivan

Der sanfte und frühe Zwang, Rituale zu vollziehen, die unmittelbar wenig verständlich sind, sich aber langfristig als den Charakter bildend erweisen; deren Sinn, Zweck und persönliche Philosophie sich teils Jahre später erst entpuppen – das ist Erziehung und ein Wert, der von Generation an Generation übergeben werden kann. So baut man auf den Erkenntnissen der Vorfahren auf, kann sie reflektiert (oder nicht) übernehmen, ohne sie erst selbst haben zu müssen, und lebt ein Leben, das denjenigen, die bei Null anfangen müssen, um einiges voraus ist.

Ich habe selbst des öfteren miterlebt, wie Personen in meinem Umfeld Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, weil sie Anderen die Welt bedeutet. Ich habe Personen erlebt, die das taten, weil es ihre Eltern ihnen so beigebracht haben, und ich habe selbst erlebt, wie der Erkenntnismoment, den Deirdre Sullivan beschreibt, bei mir eingetreten ist, während ich, es ist nun Jahre her, selbst an einem Begräbnis teilnahm.

Aber es muss nicht immer ein Begräbnis sein, es gibt auch andere Rituale, die man mitmacht, damit sich andere Menschen gut oder zumindest besser fühlen: Das von Konflikten begleitete Beisammensein zum Weihnachtsessen, das nervige Walzertanzen am Jahreswechsel, der herbeigesehnte Urlaub im Frühjahr, die elendiglich langweiligen Bergwanderungen im Sommer, der notwendige Aufenthalt in der Therme, die ewig langen Friedhofsbesuche mit den immer gleichen Geschichten, das Geburtstagsessen im Lokal, das man selbst nie aufsuchen würde – alles „Unannehmlichkeiten“, die aber denjenigen, die sie praktizieren und sich herbeiwünschen, die Welt bedeuten. Wenn sie einmal nicht mehr sind, werden wir uns an die Weihnachtsessen, das Walzertanzen, die Wanderungen, die Thermenaufenthalte, die Friedhofsbesuche und ihre Geschichten oder die Geburtstagsessen erinnern.

Ich sehe diese ritualisierten Tätigkeiten als Kapital, in einen Habitus oder in ein Ritual gegossene Erkenntnisse, Aspirationen, Hoffnungen und Werte. Sie sind wertvolles, der Familie oder dem engsten Freundeskreis innewohnendes, oftmals nicht in Worte gefasstes Wissen, das subtil von den Alten an die Jungen vermittelt wird. Ebenso wie die Genetik körperliche Eigenschaften unsterblich werden lässt, ist es dieser Mechanismus des Rituals, der nicht-körperliche Eigenschaften, also Einstellungen und Werte, unsterblich werden lässt. Er stellt wohl den größten Schatz dar, den eine Generation der nächsten hinterlassen kann.

Der Mechanismus funktioniert aber natürlich nur dann, wenn es Kontakt zwischen den Generationen gibt. Bricht dieser Kontakt auf oder wird der Mechanismus aus anderen Gründen außer Kraft gesetzt, sind also die Jungen nicht lange genug Teil einer Familie, die es möglich macht, diesem Mechanismus ausgesetzt zu sein, stirbt dieses zerbrechliche, wenn doch auch so wertvolle Gut. Und die Jungen fangen von vorne an, können niemals über die Rituale reflektieren. Sie müssen sich erst, wohl über Generationen hinweg, an das verborgene Wissen ihrer Vorfahren herantasten, das ihnen durch einen einzigen Bruch innerhalb der Generationen genommen wurde. Seien es Werte, die ins Innere der Familie wirken oder solche, die sich, wie im Fall von Deirdre Sullivan, auch nach außen hin zeigen.

Die Bewahrung dieses Wissens ist, was man unter „Verantwortung gegenüber seiner Familie“ verstehen sollte. Denn es geht schlichtweg um nichts Geringeres als die Weitergabe des lebenden Geistes der eigenen Vorfahren.

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