Sonntagsarabesken #100

Ein Zitat: Rückgriff in bessere Zeit.
Eine Wiederholung: Das ewige Kreisen um die eine Note, die er doch nie exakt zu treffen vermochte.

Während der Rauch des Dampfers sich im milchigen Blauglanz des Horizontes aufzulösen beginnt, wendet sich Cardenio dem hoch aufragenden schwarzen Kreuz auf dem Berggrat zu und ballt die Fäuste. Flammen züngeln um seine Stirne. Sie hat es getan. Ihn auf der Insel zurückgelassen. Allein. Ein Riß klafft unter seinen Füßen in der schartigen Haut der Basaltklippe. Unten brandet gefräßiges Meer an die Ränder seines Verstandes, den Sand alter Liebe an die Oberfläche spülend und ihre Muschelgehäuse todbringend gegen die scharfen Felsen schmetternd. Noch ist kaum ihr Geruch aus seinem Bettzeug verschwunden, noch trägt er die Spuren ihrer Leidenschaft auf seinem Körper – und doch gleicht sie seit gut einer Stunde wieder in beängstigender Weise dem Gespenst, das sie vor ihrem ersten Treffen stets für ihn gewesen war. Die schaumige Spur, die der Bug des Schiffes durch die Hafendünung gezogen hat, ist in der aufkommenden Brise verweht. Selbst die Möwen haben diese Fährte verloren. Nach dem Abschied kam die Raserei. Auf der blinden Suche nach dem dunklen Punkt des Schiffes in der Ferne rannte Cardenio bis an das nördliche Ende der Insel, fast bis zum letzten Leuchtfeuer vor der unbekannten Welt, brüllend und gestikulierend, in dem hoffnungslosen Versuch, sie aufzuhalten. Jetzt ist es zu spät. Er steht dort, am Abgrund, am Ende des Weges, und vor ihm liegt nur noch dunkles Blau, dessen Ränder in die Unendlichkeit ausfransen. Der Ozean kann und will ihn nicht aufnehmen. Der Schatten des Kreuzes gleitet über Cardenios Gesicht. Er schließt die Augen und läßt den kühlen Hauch über seine Lider streifen. Keine Tränen im Hafen. Die Promenade war überfüllt mit Menschen, doch er hatte nur Augen für sie. In einem luftigen blauen Kleid schien sie durchsichtig, wie Zuckerwatte im Wind zerflockend, ihre Augen hatten sich an einen Punkt hinter seinem Rücken geklammert, violett unterlegt wie in den schönsten Stunden ihrer Liebe. Cardenios Hand streifte ihre Schulter. Unter der pergamenten schimmernden Haut sah er das Blut pulsieren. Angst umkrallte seinen Magen, der zu einem schwarzen Kohleklumpen verging. Seine Ohren nahmen den Lärm des Kais nicht mehr wahr, er hörte bloß sein pochendes Herz, dessen hektischer Takt ihn zu einer Entscheidung nötigen wollte. Doch er ließ sich nicht zwingen. Cardenio verschränkte die Hände wieder hinter dem Rücken und reckte herrisch den Kopf. Die Szene schält sich glasklar aus dem wandernden Schatten des Kreuzes. Brennende Vorwürfe erheben sich wie lymphidische Geschöpfe, transparente Wassergeister, aus dem Dunst des Hafenbeckens. Sie sagt: Wir werden uns nicht wiedersehen. – Kurz scheint sie ihn mit Interesse anzublicken, auf seine Reaktion wartend. Cardenio beißt sich auf die Lippen. Dann, mit brüchiger Stimme, entgegnet er: Dann wünsche ich dir eine gute Reise! – Sie nickte. Ein langsames Nicken, wie in Trance, ein träumerisches, verträumtes, alptraumhaftes Nicken, dann wandte sie sich von ihm ab, in fließender, aber scheinbar unendlich verzögerter Bewegung, einer lasziven Pirouette, die ihm galt, und diese in höchster Vollendung dargebotene Variante einer melancholischen, doch selbstbewußt vollzogenen Trennung brach ihm das Herz.