Sonntagsarabesken #102

Hunderte blasse Gestalten verneigen sich vor dem eintretend Flüchtenden. Ein eisiger Luftzug streichelt seine Schläfen. Aschgraue Hecken senken tief die heute abgeschnittenen Kronen; goldgelb wirbelnd steigen Staub und Geruch der alten Gasse aus dem Rinnstein hoch, aufgewirbelt von sommerlichem Abendwind. Die Sonne verkleidet sich; sie nimmt den matten Glanz des vergangenen Jahrhunderts an. Menschen reihen sich aneinander, in einer unheimlichen Prozession, die so nie hätte stattfinden können; denn es sind kaum zwei unter ihnen, die von einander gewußt, geschweigedenn sich je kennengelernt hätten. In seinen Erinnerungen kommen sie zusammen: Die nobel Distanzierte mit dem sie umgebenden Hauch von Abenteuer; die sanfte Schönheit, rational planend und doch an ihre Emotionen gekettet; der giganteske Unternehmer, gekleidet in das Passende und doch immer in lächerlichem Übermaß verrinnend; die Suchende, die das Geliebte von sich fortstößt und neue Ufer umkreist wie das Insekt die Flamme; der Unzufriedene, dessen Weg von beständig vorwärts eilenden kühnen Plänen gezeichnet und von gebrochenen Herzen gesäumt wird; der heilige Eiferer mit dem Hang zu manischen Gründlichkeit, dessen unendliche Geduld vielleicht nur Spiegel einer im Kern bösartigen Veranlagung ist; die milchweiße Kindfrau, deren saphirblaue Augen ihn als erste nachhaltig berührten; das merkwürdig sehnige Geschöpf seiner frühen Gymnasiastenträume und seine versponnenen Wortkaskaden; der Erfindungsreiche, dessen Aufmerksamkeit vor nichts und niemandem Halt zu machen und von Tag zu Tag lästiger zu werden schien; der Beliebteste der Beliebten, der jede Situation zu seinem Vorteil und jedes Wort in einen Lacher verwandeln konnte; die Verwundbare, die sich zu schnell verliebt, ohne das Entlieben je gelernt zu haben; die wunderschön Glänzende, nur ein Rotweinglas entfernt von der Möglichkeit einer Affäre; der noble Hinterhofpoet aus der Tiefebene, dessen Schwanengesang nichts als eine Anhäufung von Zitaten ist; die zu Tode Verschreckte, die ihre Seele hinter einem feinen, brünetten Lächeln zu verstecken pflegt; die ehemalige Revolutionärin, die Hammer und Sichel mit dem Kochlöffel vertauscht hatte; der grausame Tatmensch, der zum eigenen Vorteil sogar Madonnenblut vergießen würde; die adrette Lehrerin mit umschatteten Augen und üblem Leumund; der Heilige unter den Silenen, dessen Phantasien das Widerliche mit dem Unwirklichen verbinden; die Altbekannte, im Bausch ihres blauen Kleides die auf der Wiese gepflückten Sterne bewahrend. Und schließlich der Schatten des blondgelockten Engels, der aus dem Kryptastein zu steigen scheint. Das letzte Bild in der unmöglichen Verkettung von Gestalten, deren Wirklichkeit durch nichts zu beweisen ist. Und doch: Sie alle haben existiert, im Moment ihrer Beschreibung.