Sonntagsarabesken #107

Hinter den rot umrandeten Fleischkugeln, die sich Menschen nennen, verschwindet die Wahrheit wie hinter verstaubten Theaterkulissen. In den Lehnstühlen sitzen knochenbleiche Gespenster und reden von gegenwärtiger Vergangenheit. Das Atmen fällt schwer. Der Körper verweigert langsam den Dienst. Und während die Bilder der Geliebten allmählich verblassen, schält sich die Vorahnung des baldigen Endes immer deutlicher, Stunde für Stunde schärfer umrissen, aus dem schattendurchwirkten Jetzt heraus. Es schmerzt, dieses Bild fortschreitender Ermüdung zu betrachten. Der Schatten des Fensterkreuzes wandert über das weiße Tischtuch. Was bleibt am Ende des Tages? Die Gewißheit, mit einem wunderbaren Menschen gesprochen zu haben; der Wunsch, dass etwas nie zu Ende gehen möge; das Verlangen, einige wenige fragile Worte festzuhalten, eine Unterhaltung bis in die Ewigkeit fortzusetzen, in einer Umarmung das Wühlen der Zeit zerfließen zu lassen. Die Spuren der Schritte, die sich in labyrinthischen Bahnen durch die Altstadt von Barcelona gefressen haben, sind bereits von einem dicht gewebten Netz tausend anderer überdeckt; die vor Jahren getauschten Küsse abgelöst von ungezählten weiteren; die ersten Blicke, in denen sich Augen schüchtern berührten, ausgelöscht in einem ruhelosen, begehrlichen Strom, der weder Anfang noch Ziel kennt. Das Spalier der polierten schwarzen Grabsteine wartet zwischen feuerrot belaubten Bäumen. Der Herbst, die Zeit des Totentanzes. Das kurze Verharren vor dem Einbruch klirrender Stille. Hand in Hand spazieren sie, am Vortag noch, zwischen den Hecken des Parks. Im Morgenlicht wird sich diese Szene mit all der Trauer und Wut aufgestauter Erinnerungen mischen. Denn Pardon wird nicht gewährt. Es ist ein Kampf mit allen Mitteln. Eine Schlacht, die unter mit glattem Lächeln geschmückten Oberflächen tobt. Beide Seiten denken nicht an Rückzug. Das wäre Eingeständnis von Schwäche. Doch wofür oder wogegen kämpft man? Gegen das Urteil, das sich als unausweichlich präsentiert hat? Gegen eine Entscheidung, die außerhalb eigener Kräfte getroffen wurde? Gegen das Vergessen? Für die Liebe? Hinter den Baumwipfeln erheben sich Möwenschwärme, schwarz getupft mit Krähen, die zwischen den Meeresvögeln sich in Spiralen himmelwärts schrauben. Die Augen des Träumers sind von trockenem Salz verkrustet. Die junge Wintersonne brennt ihm unter den Lidern. Und doch kann er den Blick nicht abwenden von ihr, die ihn quält, gegen die und mit der er kämpft, die ihn damals umarmt und ihm versichert hat, es könne ihm nichts geschehen, solange er nur bei ihr bleibe. Er blickt in das Licht, erblindend. Ein selbstvergessenes ironisches Lächeln umspielt die Lippen der alten Frau. Sie spricht von ihrem Tod, als handle es sich dabei um die Frage nach der Wahl des Aperitifs. Was wird also bleiben von den ach so dramatischen Momenten und tränenfeuchten Abschiedsszenen? Ein Schatten auf der Tischdecke. Wenn überhaupt.