Sonntagsarabesken #111

Der Blick des Prinzen war umschattet. Er starrte auf das verbrannte Land, die qualmenden Felder, bedeckt von zerfetzten Menschenkörpern und Pferdekadavern. Hinter seinem Rücken gurgelte das Gemurmel der Stabsoffiziere wie eine giftige Quelle. Er wollte nicht hinhören. Pulverdampf hatte sich mit dem Nebel gemischt. Der scharfe Geruch lag noch über dem Verwesungsgestank, der jedoch mit Tagesanbruch stündlich zunehmen würde. Etwa zehntausend Männer lagen von hier bis ans Flußufer über die Äcker verteilt, ein buntgescheckter Teppich, aus Leichen, Blut und Eingeweiden geknüpft. Der Prinz von Essien schüttelte benommen den Kopf, wendete sein Pferd und sah sich dem Grafen von Vigny, seinem ranghöchsten General, gegenüber. Stille. Über ihren Köpfen knatterte das Banner des dritten Regiments. Goldene Lilien auf blau-weißem Grund. Vigny zog mit einer müden, aber vollendet galanten Bewegung den Dreispitz und zwang seinen Rappen zu einer kunstvollen Gavottedrehung. Der Prinz ritt nahe an ihn heran. Ihm war übel. Silberbesticktes Taschentuch an schweißnasser Schläfe. Die englische Delegation würde kommen. Aber wer sollte die Niederlage eingestehen? Und zu welchen Bedingungen?

De Vigny, hat der rechte Flügel standgehalten? – Der Blick des Grafen verdüsterte sich.

Mein Prinz, wir mußten uns bis an den Waldrand zurückziehen und haben die Schützenlinie aus dem direkten Schußfeld der englischen Artillerie genommen.

Der Prinz biß sich auf Lippen. Blutleer sein Gesicht. Das gepuderte Haar klebte in feuchten Strähnen an seinen Schläfen. Die Lage war kritisch. Die Armee drohte in der Mitte gespalten zu werden. Rückzug. Sofort. Auf der Militärakademie hatte man über solche Dinge gesprochen. Auch über Ehre und Schande. Seine Finger fuhren an den kühlen Griff des Degens. Er würde sich nicht beugen. Wie diese Klinge, entweder töten oder brechen. Er sah dem Grafen in die Augen. Der Blick, auf den der seine traf, war illusionslos und gezeichnet von ehrlicher Sorge.

Der rechte Flügel soll sich bereit halten! Wir verhandeln mit den Engländern, dann greifen wir an. Schonungslos. Mit aller Macht. Wir müssen ihre Linien durchschlagen und zumindest bis morgen das Feld behaupten!

De Vigny schüttelte den Kopf, zuerst müde, scheinbar benommen, dann immer heftiger. Sein Pferd wurde unruhig. Die anderen Offiziere des Stabes begannen lauter zu tuscheln.

Mein Prinz, das ist unmöglich! Der rechte Flügel ist ausgeblutet, schwach, mußte sofort aus dem Gefecht genommen werden, sonst wäre er zerbrochen. Ein weiterer Angriff wäre Wahnsinn. Allein die Regimenter von Ingres und De Valmont haben in der letzten Attacke ein Drittel ihrer Männer verloren. Ihr riskiert Hunderte, vielleicht sogar Tausende Tote! Wahnsinn! – Ein Blitzen von Stahl. Mit einer ruckartigen, mechanischen Bewegung zog der Prinz den Degen blank. Ein unterdrückter Aufschrei seines Adjutanten, der jedoch nicht einzuschreiten wagte.

Mein lieber Graf, Ihr beleidigt mich! Den Angriff sollt ihr persönlich führen! Wagt Ihr es, unverwundet zurückzukehren, so wird sich eine Gelegenheit ergeben, Euch für Eure Feigheit verantwortlich zu machen! Ist das klar?

Am Horizont glühte wieder das Mündungsfeuer der Kanonen. Der Nebel begann sich zu lichten. Wo blieben die Engländer? De Vigny salutierte mit verbissenem Mund, neigte leicht den Kopf und gab seinem Pferd die Sporen. Er würde in die erstbeste Musketensalve reiten und im blutigen Schlamm ersticken, zertrampelt von der britischen Gardekavallerie. Eine Abteilung des dritten Regiments machte sich unter Trommelwirbel und Pfeifenklang auf an die Kampflinie. Mit geweiteten Augen blickte der Prinz seinem General und den wunderbar lebendigen Jungen hinterher, die den neugeborenen Tag allesamt nicht überleben sollten. Sein Verstand war kalt und stumpf geworden. Schwer atmend sah er die vorwurfsvoll verzogenen Mienen der Offiziere. Automatisch zog er die Schulterblätter zusammen und warf sich in Pose. „Was glotzt ihr so?“ bellte er ihnen entgegen, mit jener herrischen, gottgleichen Stimme, die er von seiner Mutter geerbt hatte.

Zum Sterben sind die Leute doch da! Und heute muß gestorben werden!