Sonntagsarabesken #12

An der Oberfläche einer polierten Marmorkugel hängen wie Honigfäden die dünnen Schlieren des Morgentaus. Das Gesicht dessen, der hineinblickt in die Eingeweide des Steins, wird in grotesker Krümmung verzerrt. Die zerrinnenden Tropfen tragen seine Haut, sein Fleisch mit sich. Das ist der Abgrund der hoffnungsvollen Neugierde. Sie zeigt uns, was wir sehen wollen; und doch: Bloß unsere eigenen Augen, die eigenen eingefallenen Wangen, die eigene fiebrige Stirn. Geräuschlos sickernd fließt all dies (und noch viel mehr) entlang der eiskalten Rundung der Kugel hinab. Das sind die Bilder, die mich, wenn ich sie mir ausmale, in zwei Teile reißen, langsam und genüßlich und schmerzvoll. Bilder der Täuschung, des Selbstbetruges und der Hoffnungslosigkeit. Ja und nein. Denn jedes dieser Worte trägt auf seinem Rücken das Brandmal „Liebe“ eingedrückt, eine Wunde, die nie verheilen oder verschwinden wird. Bei aller sonstigen Vorsicht wage ich nämlich folgende kühne Behauptung: Es war und ist Liebe, die mich in meine jetzige Lage gebracht hat, auf der einen Seite fehlende, auf der anderen unfaßbar maßlose Liebe. Und ganz gleich, welche Erklärung auf rationalem Wege für diese Liebe zu einer ganz bestimmten Person gefunden werden kann (kompensierte Verlustangst, Angst vor dem Alleinsein etc.), ich glaube sie nicht! Ich weigere mich, sie zu glauben! Keine Erklärung kommt an das heran, was ich fühle und hier auszudrücken versuche! Ich will mich wehren, mit Händen und Füßen, gegen diese plumpen Versuche der Vereinfachung und Abwehr meiner Gefühle! Ich will diese schreckliche Steinkugel zertrümmern, mit aller Kraft in kleinste Splitter schlagen, auf dass aus den Tausend Marmorstücken die Wahrheit hervorbrechen möge, nämlich: Dass ich Dich liebte und liebe und wahrscheinlich noch sehr, sehr lange lieben werde! Es sind nur Worte, magst Du sagen und denken, es wird vergehen, es wird verwehen im Wind einer neuen Leidenschaft. Dagegen schreie ich mit ganzer Kraft: Nein! Und Du wirst antworten: Doch, denn ich kenne Dich!? Aber stimmt das wirklich? Kennst Du die wahnsinnigen Zuckungen meiner letzten Monate, weißt Du von der heimlichen Leidenschaft meines letzten Jahres, als ich jeden kleinen Augenblick mit Dir wie kostbaren Wein aufgesaugt habe, um mich von Tag zu Tag weiter schleppen zu können? Glaubst Du mir nicht, dass ich lieben kann? Traust Du mir nicht zu, von solchen Gefühlen gequält zu werden? Und vor allem: Wie war das mit Deinen eigenen Gefühlen, über die Du jetzt so sprechend schweigst? Hast Du nie daran gedacht, ich könnte Dich lieben, und hast Du nie einen Gedanken daran verschwendet, was Du selbst in diesem Fall fühlen würdest? Und wenn Du daran gedacht hast: Was hast Du dann empfunden? Ist irgend etwas davon noch in Dir? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich bilde ich mir alles ein, mein kranker Verstand weigert sich, schnörkellos seinen Dienst zu tun und die Ausweglosigkeit seiner (und meiner) Situation anzuerkennen. Vielleicht bin ich ein Narr. Denn ich liebe Dich noch immer.

Damit ist es gesagt. Verschließe die Ohren und verschließe Deinen Verstand, verschließe Deine Gedanken und Deine Gefühle, laß den Wirbelsturm an Dir vorbeitoben, sag kein Wort, kein Wort, keine Silbe, und wenn das Eis die Landschaft zur Gänze überzogen hat, wärme Dich am Feuer Deines neuen Glückes, das Dir keiner nehmen kann! Sag’ kein Wort. Sei glücklich!