Sonntagsarabesken #21

Gestern war er noch glücklich gewesen. Und jetzt? Gespenster, überall. Sie tauchten zwischen den Laken auf, aus den Falten, in denen noch die Wärme ihres Körpers knisterte, sie grinsten ihm entgegen von dem verlassenen Stuhl, der ihre luftleichte Gestalt zu tragen schien, erhoben sich aus den Zeilen ihrer Briefe und wirbelten mit dem Duft ihres Parfums in sein Gehirn. Er spürte es jetzt deutlich, wie sehr sie ihm fehlte. Ihre Schritte durch seine Wohnung, ihr Lachen, ihre Stimme in seinem Ohr; die Räume waren übervoll mit Luftlöchern, die sie bei ihrem letzten (dem letzten) Besuch gerissen hatte, überall, wo sie gestanden, gesessen und gelegen war, hatte sie einen Krater geöffnet, den nur sie selbst wieder würde schließen können. Er zählte, er zählte diese Luftlöcher, er taumelte – es waren zu viele. Und in jedem von ihnen saß eine lachende Kreatur (sie lachten über ihn, ganz sicher, statt mit ihm zu weinen), so dass die Einsamkeit in Wahrheit ein grauenvoll bevölkerter Platz geworden war. Ein Ort, an dem man sich nur noch aufhängen konnte. Er wollte sie mit leisen Worten zurückholen, ihren Zauberschein vor sich erglühen sehen, ihre Berührungen, ihre Gegenwart spüren; denn jetzt, bei jedem Schritt und jeder Drehung seiner Schultern, fühlte er nur die Kälte eines fahlen Februarabends vorbei streichen. Tausende Luftlöcher. Höhlungen des Schmerzes und der Liebe, die sich mit der schnell heraufziehenden Dunkelheit zu füllen begannen. Seine übliche Gelassenheit begann ihn zu verlassen; es ging schnell, furchterregend schnell. Ohnmächtig beobachtete er, wie die Schwärze Besitz von den Wänden, den Möbeln, den Buchrücken ergriff. Sand, der zwischen Fingern verrinnt (wer hat das bloß so schön gesagt?). Eine Melodie, die in umgekehrter Richtung abläuft, was den Schrecken beim Zuhörer nur noch steigert. Das Zimmer hatte sich nach außen gestülpt, in entsetzlichem Schattengewebe. Und noch immer, als silberne Flecken, sah er die Luftlöcher vor sich, deren Zahl mit jeder Sekunde zunahm. Er wollte sich das Denken verbieten, aber natürlich konnte und durfte das nicht gelingen: Erinnerung, die. Sie riß ihn aus dem Jetzt, gleichzeitig ließ sie ihn nicht in die Gegenwart zurück. Sie schöpfte aus den Quellen seines Leides, das Leid aus den Brunnenschlünden der Sehnsucht, die Sehnsucht selbst hatte keinen Ursprung, nur ein Ziel, und in ihr lag wiederum die ewige Verdammnis zur Erinnerung begründet… träumte er schon, nein, seine Augen waren weit geöffnet, und der schwache Lichtschein der Straßenbeleuchtung tat ihnen weh. Keine Vorstellung mehr vom Glücklichsein, nur noch der grelle Blitz eines wurzellosen Schmerzes. Er zog die Vorhänge zu. Jetzt: Alles war dunkel um ihn herum (bis auf das grüne Schimmern des Aquariums). Die Augen schließen! Die Luftlöcher verschwinden lassen… Mit trockenem Hals schlief er schließlich ein.