Sonntagsarabesken #22

Mondgesicht, schönes, geheimnisvolles. Mit wiegenden Schritten stolziert sie die Straße hinab; die dünnen Kirschbäume stehen Wache (noch keine Blüten auf ihren kugeligen Häuptern, die Jahreszeit ist noch zu kalt, der letzte Schnee noch nicht vergessen). Sie dreht sich nach den Scheinwerfern um, die langsam näherkommen, zu dem gedämpften Brummen eines Motors, besser gesagt: sie dreht den Kopf, so dass sie kurz über die linke Schulter blicken kann, sie wendet nicht den Körper, eine Bewegung, die zu sehr nach Interesse ausgesehen hätte; sie hebt die Rechte mit der glühenden Zigarette auf Mundhöhe, ohne jedoch den Filter zwischen die Lippen zu nehmen. Lippen, die schwarz glänzen, in der Dunkelheit, blutrot, wenn das Licht wieder zwischen Geäast und Gewölk hervor blitzt. Weiter vorne, an der Kreuzung, steht ein Liebespaar, das die Zeit vergessen hat, in inniger Umarmung. Die Wangen des Mädchens sind weiß wie Papier; die Hände des Jungen liegen schwer auf ihren Schultern, und ihr warmer Atem streichelt sein Ohr. Sie haben sich ganz gut verstanden im Lauf des Abends, können sich jetzt jedoch an fast nichts mehr erinnern. Die Uhren an ihren Handgelenken ticken losgelöst von ihnen in einer anderen Welt. Es sollte vielleicht nichts anderes als diese Nacht geben. Wo sich Traum und Leben berühren. Für immer. Wer weiß schon, welchen Namen die Gefühle tragen. Das Auto biegt an den Fahrbahnrand. Die Kirschbäume rücken ein wenig auseinander, und sie tritt nach vorne, rafft den Rock bis knapp unter die Hüfte, so dass der Fahrer aus dem Schatten des Wagens ihre Strumpfbänder und den Slip sehen kann. Knisternd brennt die Glut zwischen ihren Finger, das Papier wird heiß, Asche rieselt in den Rinnstein. Das Mädchen spürt nichts mehr in den Armen des Jungen; er hingegen weiß noch nicht, wie er sich selbst die trockenen Küsse später erklären soll. Beide, an der Kreuzung, tauchen in die Vergessenheit der späten Stunde. Der Fahrer schnippt mit den Fingern; sie sieht seinen schemenhaften Körper, der sich zu ihr herüber beugt, um die Wagentür zu öffnen. Kein Wort. Die Musik der Nacht webt ihr unsichtbares Netz zwischen allen, den Unschuldigen und den Verbrechern. Auf das Sprechen wird verzichtet. Unter dem Gespenstermond.