Sonntagsarabesken #73

Die Macht der Blicke: Oberflächlich schweifend, sich über endlose Räume hinweg überkreuzend, das Besondere suchend, die Kleinigkeiten ignorierend, in die Tiefe dringend, sich an Schönem und Häßlichem festsaugend, die Zeit durchschneidend, Gefühle erweckend oder Unsterbliche tötend.

Er erinnert sich, in einem hohen Raum ungarische Musik gehört zu haben, während hunderte Rosen ihren schweren Duft verströmten, zwischen Blättern aus Blattgold, gebadet in blutrotem Licht. Das wunderbar Schreckliche des Augenblicks war der eisige Griff mitten in seinen Magen. Seine Augen wanderten nach oben, zu den Stuckengeln der prachtvollen Decke, deren blaue Wangen ihn zu trösten schienen: In unserer Ewigkeit gibt es keine Schmerzen. Die Fresken waren verblaßt. Seine Ohren drohten zu platzen, während kalter Schweiß über seinen Nacken strömte. Er wollte nicht mehr nach unten sehen. Vor ihm bedeckten Körper und Stoffe die samtbezogene Treppe. Es war klar, dass sie sich anblickten, gegenseitig, und dass sich ihre Köpfe auch immer wieder in seine Richtung drehen, dass sie ihn mit ihren Pupillen fixieren, dass ihn blaue und grüne Blitze durchdringen würden. Abwechselnd. Es war eine verwundende Macht, die diese Blicke besaßen. Mit Absicht verwundend. Und doch im Innersten unwissend, allzu leicht beleidigt, jede mögliche Kränkung im Vorhinein spürend. Aus diesem Grund konnte es nur eine Devise geben: Arrogantes Übersehen. Das Nicht-Erwidern, das Nicht-Beachten. Solche Ignoranz mußte zur Wut reizen. In diesem Augenblick war es ihm gleichgültig. Zu allem bereit, seine Ruhe zu verteidigen; nach außen Stahlbeton. Es hatte nichts mit einer absichtlichen Provokation zu tun. Es sollte keine demonstrative Geste sein. Selbstschutz im Kreuzfeuer der zischenden Blicke. Es wurde scharf geschossen. Wie schön und gelassen war dem gegenüber die Ruhe des Mädchens, das zwischen solch kriegerischen Geschöpfen zu sitzen gekommen war! Ihre Augen verströmten die reinste Freude über den herrlichen Abend. Sie waren der einzige Zufluchtsort, der ihm noch offen stand. Und so wandte er den Blick von der Decke und starrte die heiß umkämpfte Frontlinie entlang, stur die explodierenden Granaten übersehend, mitten hinein in den sanften Sturm einer kindlichen Gelassenheit, die ihm in dieser Form vielleicht nie wieder begegnen würde. Sie lächelte ihm zu, und die Schwere verschwand aus seinem Körper. Er richtete sich zu voller Größe auf. Die Engel an der Decke mochten Recht haben. Doch die von ihnen versprochene Ewigkeit lockte ihn jetzt nicht mehr. Denn Teile dieses schmerzlosen Paradieses waren aus dem Rand des Himmels gebrochen und ihm zu Füßen gelandet. Er lächelte zurück.