Auf Zeit Online stellt sich Jakob von der Lindern die Frage, ob das Hören von Hörbüchern genauso viel wert ist wie das Lesen der gedruckten Version. Eigentlich reflektiert er aber darüber, ob man jemandem sagen kann, man hätte ein Buch gelesen, wenn man es doch nur gehört hat.
Unser Gehirn entschlüsselt die Bedeutung des gesprochenen und des gelesenen Textes auf die gleiche Art. Im allerersten Moment natürlich nicht, da werden durch visuelle Reize andere Hirnregionen aktiv als durch auditive. Aber die semantische Information wird in beiden Fällen in den gleichen Regionen verarbeitet. […] Die Realität des Hörens ist, dass es oft gleichzeitig mit anderen Tätigkeiten stattfindet. Menschen hören Hörbücher oder Podcasts, während sie Gewichte stemmen, Zwiebeln schneiden, das Bad putzen, den Hund ausführen. […] Das ist einer der Hauptgründe, warum manche Leseforscherinnen skeptisch sind, ob Hörbücher zu hören genauso viel wert ist wie lesen. […] Lesen auf Papier [ist] die beste Methode […], besser als Lesen auf einem Bildschirm und besser als zu hören.
Zeit Online
Ich lese oft, eine Person hätte dieses und jenes studiert, bis ich dann draufkomme, dass „Studieren“ in dem Fall mehr „ein oder zwei Vorlesungen besucht, sonst aber nichts weiter in die Richtung unternommen“ bedeutet. Ähnlich verhält es sich bei mir, wenn ich mitbekomme, jemand hätte einen Text, sei es ein Buch oder sonst irgendwas, gelesen, tatsächlich aber hat die Person diesen Text beim Autofahren, beim Sportmachen, bei Was-auch-immer gehört.
Wenn es der Zufall will und ich spreche dann mit einer Person über diesen Text, den ich tatsächlich gelesen, sie ihn aber nur gehört hat, so bemerke ich eigentlich immer, dass denjenigen, die hören, oft wesentliche Punkte eines Arguments fehlen oder Dinge, die wie Details wirken, tatsächlich aber fürs Gesamtverständnis essentiell sind, von ihnen nicht mit genügend Beachtung aufgenommen wurden. Gleiches gilt übrigens für Menschen, die das Lesen hinter KI-generierten Zusammenfassungen verstecken.
Aber: Wird ein Inhalt in einer Form aufbereitet, die fürs Hören konzipiert ist (etwa Podcasts oder Radiosendungen1), wird also zum Beispiel der Autor von einer sachkundigen Person in einem Interview zu den Inhalten des Textes befragt und erklärt oder präsentiert er sie während der Sendung/des Podcasts im Rahmen eines Sprechakts, also ohne auf die einem geschriebenen Text innewohnenden Formvorschriften und Logiken, die ein anderes Präsentieren erfordern als es die gesprochene Sprache zulässt, so denke ich, dass das Verständnis eines komplizierten Inhalts mindestens gleich gut, wenn nicht sogar besser sein kann. Wie oft habe ich einem komplexen Inhalt in geschriebener Form nur mit sehr viel Anstrengung und Konzentration folgen können, wohingegen ich einem Interview mit dem Verfasser dieses Inhalts, in dem genau dieser komplexe Inhalt angesprochen wurde, mit Leichtigkeit folgen konnte. Die gesprochene Sprache zwingt ein Person förmlich dazu, Dinge einfacher zu erklären, vor allem durch die Notwendigkeit, den Inhalt in kleinere gedankliche Einheiten aufzuteilen und somit insgesamt einfacher verständlich zu machen. Aber… das ist auch eine andere Form der Vermittlung eines Inhalts.
Ein Hörbuch ist der Versuch, einen für die Lektüre hergestellten Text durch Sprache zu vermitteln; dass das in gewisser Weise Abstriche beinhalten muss, ist doch klar, oder? Niemand würde je auf die Idee kommen, sich ein Gemälde oder ein Musikstück erzählen zu lassen. Aber bei Büchern scheint das niemanden zu stören.
- Oder, das muss man fairer Weise dazu sagen, tatsächlich fürs Hören aufbereitete literarische Texte, die nicht nur vorgelesen werden. ↩︎
Ich habe vor diesem Unterschied so viel Respekt, dass ich den Hörbuch-Aspekt in Gesprächen immer extra betone und in meinem Kritiken extra von Hörbuch-Kritiken schreibe. 😅
Wobei ich echte Hörbücher grundsätzlich konzentriert ohne Nebentätigkeit höre, denn zur Berieselung nebenbei bleibt, wie von dir auch erwähnt, oft nicht viel hängen. Mit Podcasts mache ich das zwar öfter, aber meistens zu Tätigkeiten ohne Konzentration: Kochen, Sport, Zusammenräumen.
Bzgl. Hörbuch als Versuch, zur Lektüre hergestellten Text mittels Sprache zu vermitteln: Das frage ich mich auch und komme zu keinem eindeutigen Schluss, tendiere aber in die andere Richtung: Der Text wird ja 1:1 wiedergegeben und der Spielraum durch Betonung, Auslegung etc. ist da IMO sehr gering oder schafft womöglich sogar Klarheit, die man beim Lesen nicht hätte (kommt aber drauf an, wie sehr das mit der/dem Autor:in abgestimmt ist).
(Audio)visuelle Wahrnehmung klappt in der Form natürlich nicht – ein Bild sagt eben mehr als tausend Worte, wie man so schön sagt. 😅 Wo heuer dann der EAA 2025 ein davon nicht ganz unabhängiger, sehr spannender Punkt ist, wo es unter anderem um genau diese Frage geht.
Ad Konzentration beim Hören: Ich denke, da befindest du dich in der Minderzahl. Die meisten, die ich kenne, die auch Hörbücher hören, tun das beim Autofahren. Und da – ich hätte es selbst nicht geglaubt – widmet man dem Gehörten wohl weit weniger Aufmerksamkeit als man denkt. Spannend, dass du auch meinst, den Text zu hören „schaffe womöglich sogar Klarheit, die man beim Lesen nicht hat“ – ich sehe das tatsächlich genau umgekehrt. Aber da sind wir dann wohl unterschiedliche Verarbeitungstypen. Soll ja nicht weiter stören. Wobei es natürlich auch sein kann, dass meine, wenn auch nicht stark ausgeprägte, aber doch existierende Aphantasie hier mit hineinspielt und mich der geschriebene Text irgendwie mehr unterstützt als jemanden, der mit der Imagination einer Szene weitaus weniger Probleme hat.