Ich weiß ja gar nicht, wo ich anfangen soll, aber ich fasse in einigen Absätzen zusammen, was passiert ist.
Ich empfehle einem Kunden, der mit E-Mailpostfächern jongliert, die teilweise mehr als 100GB groß sind, die Verwendung von Gmail (in der G Suite-Edition). Einerseits, damit seine Anforderung, endlich E-Mails finden zu können, erfüllt wird, andererseits, weil er das Gefühl hätte, E-Mails würden nicht zeitgerecht bearbeitet werden, und, weil die vorrangige Nutzung der Web-Oberfläche nicht mehr zum gegenwärtig herrschenden Dauerproblem führt, dass unterschiedliche Outlook- und andere Mailprogrammversionen nahezu im Wochenrythmus mit sehr viel Supportaufwand repariert (oder zumindest neu konfiguriert) werden müssen.
Der Kunde willigt ein, weil er, nach etlichen Rückfragen bei Angestellten, Freunden, Bekannten und Familie darin bekräftigt wird, dass E-Mails mit Gmail wirklich einfach zu händeln sind.
Die Umstellung erfolgt und klappt hervorragend. Innerhalb weniger Tage sind alle E-Mails transferiert; benutzbar ist das System allerdings bereits ab der ersten Sekunde. Wohlwollen und Lob von nahezu allen Angestellten, nur nicht vom Sekretariat. Dort kenne man sich mit „diesem neuen System“ nicht aus.
Es vergehen keine zwei Tage, da ereilt mich ein Anruf des Kunden: Die Umstellung ist ein Desaster, er findet kein einziges seiner E-Mails wieder. Ich willige einer Screenshare-Session ein; wir finden die gesuchte E-Mail innerhalb weniger Sekunden. Ein solcher Anruf wird noch ein paar Male erfolgen; jedesmal werden wir gemeinsam die gesuchten E-Mails innerhalb weniger Sekunden finden.
Irgendwann einmal ändert sich der Ton und es heißt plötzlich, die Umstellung sei ein großer Fehler gewesen, denn im Betrieb hätte man damit enorme Probleme. Nichts funktioniere mehr, E-Mails blieben unbeantwortet, etc., etc. Ich schlage vor, mich für ein paar Stunden ins Sekretariat zu setzen und mit den dort Tätigen das E-Mailproblem einerseits zu erörtern, andererseits zu lösen. Zustimmung.
Im Sekretariat erfahre ich, wie bislang mit E-Mails umgegangen wurde: Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin hatte einen eigenen Ordner, in den E-Mails gelegt wurden, die bearbeitet werden sollten. Da im Unternehmen eine Art Schichtbetrieb besteht, konnte es also sein, dass eine Anfrage, die am Mittwoch geschickt, erst am nächsten Montag beantwortet wurde. „Wir haben das immer schon so gemacht.“ – Ich habe vorgeschlagen, alles, was nicht unbedingt von ein und derselben Person bearbeitet werden musste, gleich zu erledigen, wodurch sich ein einfacher Entscheidungsbaum ergab:
- Wenn eine Anfrage unmittelbar beantwortet werden kann, beantworte sie unmittelbar. Wenn nicht, lege sie zur Wiedervorlage am nächsten Tag vor.
- Wenn eine Anfrage Wissen voraussetzt, dass die gerade E-Mails bearbeitende Person nicht hat, dann lege die Anfrage ebenso auf Wiedervorlage, damit sie von der nächsten Person bearbeitet werden kann (oder schicke sie gleich an die betreffende Person weiter).
- Archiviere allgemeine Informationen sofort. Sie gehen ja nicht verloren, sie blockieren aber den Posteingang nicht.
Mit diesen drei Regeln solle es am Ende eines jeden Arbeitstages das berühmte Inbox Zero geben.
Massive Ablehnung. Das sei zu kompliziert, soetwas könne man sich nicht merken. E-Mails würden so verloren gehen. Tatsächlich aber lag der Grund woanders: E-Mails, die „verloren gegangen waren“ habe ich in einigen der Testsuchen, die ich mit meinem Kunden und mit den im Sekretariat Tätigen durchgeführt habe, in den Ordnern anderer im Sekretariat Tätiger gefunden. In anderen Worten: Man hatte ein auf manuellem Ordnen und auf eigenständigem Erinnern basierendes System konstruiert, mit dem man diesen Betrieb am Laufen hielt. Dass das zu „angeblich verschwundenen“ E-Mails führen würde, wunderte mich nun nicht mehr. Vielleicht, aber hier lehne ich mich weit aus dem Fenster heraus, wollte man ja sogar einige der E-Mails nicht bearbeiten?
Mittlerweile sind ein paar Wochen vergangen. Ich erhielt den Auftrag von meinem Kunden, alle E-Mails wieder zurück auf ein „auf Ordnern basierendes System“ (das war in dem Fall Office 365) zu migrieren. Ich tat das und übernahm alle (Gmail-) Labels als Ordner. „Jetzt sind alle E-Mails wieder da“, hieß es nach der Migration. Alle wären zufrieden. Jetzt könne man wieder arbeiten.
Die ganze Aktion ist schon einige Zeit lang her, aber heute habe ich in einem Telefonat mit dem besagten Kunden eben genau das erfahren: Er hätte durch dieses E-Mail-Drama sein Vertrauen in mich und meine Beratungstätigkeit verloren, weshalb er neuen Vorschlägen skeptisch gegenüber stehe und deshalb andere Personen hinzuziehen würde – allesamt, das nur nebenbei, im Sekretariat oder verwandten Funktionen tätig. Hätte er doch nur ein wenig genauer auf seine Angestellten geschaut, die sich geschickt aus einem minimalen Mehraufwand an Arbeit, die dem Unternehmen wahrscheinlich vieles gebracht hätte, herausgeredet haben!
Und das Beste kommt zum Schluss: Dieser Kunde nutzt auf seinem Android-Gerät Gmail als primären E-Mailservice für seine privaten Mails. „Weil das funktioniert einfach gut. Nicht vergleichbar mit dem, was ich ihm da angetan hätte.“