Die nunmehr ehemalige Doktorandin und YouTuberin Zara Dar hat in ihrem neuesten Video bekannt gegeben, fortan nicht mehr an ihrer Dissertation zu arbeiten und eine Laufbahn im akademischen Bereich anzustreben, sondern einen kompletten Karrierewechsel durchzuführen und als „Content Creator“ auf OnlyFans zu arbeiten. Also als Pornodarstellerin auf der Porno-Website, die man nicht Porno-Website und deren Darsteller man nicht Pornodarsteller nennt.
Zuerst: Wer ist Zara Dar?
Zara Dar holds degrees in bioengineering and computer science. She gained fame through her YouTube channel, where she simplified complex scientific concepts, making topics such as neural networks and gradient descent algorithms understandable to a broader audience. Her LinkedIn account describes her as „a motivated engineer and researcher studying computer science“ and a STEM (science, technology, engineering, and mathematics) enthusiast.
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Und so sehr die ganze Sache auch nach Promotion-Stunt und aufwändiger OnlyFans-Kampgane riecht, die Begründung, die man im Video zu hören bekommt, hat es in sich, vor allem ab Minute 6:20, denn sie entspricht genau dem, worüber sich Freundinnen und Freunde, die im akademischen Bereich arbeiten, auch jedes Mal beschweren: Die Vorstellung, „in der Wissenschaft“ zu arbeiten, ist eine idealisierte Illusion, die von administrativem Aufwand, der Hörigkeit gegenüber Vorgesetzten, Undankbarkeit, einem im Verhältnis schlechten Gehalt und dem andauernden Nachrennen ums Geld geprägt ist. Man muss schon sehr idealistisch sein, wenn man sich eine Karriere dieser Art leisten will. Und Zara Dar will einfach nicht mehr.
„People whose lifestyles I thought I envied are tied to someone else’s vision. They’ll spend their lives working for a company and doing things they don’t necessarily enjoy. […] Their work might win someone else’s wealth and fame while they stay in the background“ […] By opting out of a career in academia or the tech industry, she explained that she could focus on exploring and learning about topics that genuinely interested her, rather than being limited to subjects deemed important by funding agencies. […] „I’ve made $1 million […] I have an investment portfolio and am planning to buy my own house. These accomplishments are a testament to the tangible rewards of carving my own path and the freedom it has brought me.“ […] Most professors in the U.S. earn around $100,000 annually and often spend more time writing grant proposals than conducting actual research – a lifestyle she felt wasn’t aligned with her vision for herself.
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Ich denke, wir brauchen einen sehr ausführlichen und langen Dialog über den Wissenschaftsbetrieb. Wenn eine (angeblich vielversprechende) junge Wissenschaftlerin den akademischen Betrieb verlässt, um als Pornodarstellerin zu arbeiten – nicht etwa, weil sie in ihrer Karriere gescheitert ist, sondern, weil sie eine kühle Berechnung angestellt und dabei festgestellt hat, dass sie, würde sie ihren Weg weiter verfolgen, nicht einmal in die Nähe des Lebens kommen könnte, das sie sich vorgestellt und gewünscht hat -, dann läuft viel schief in dem Bereich gesellschaftlichen Lebens, der uns weiterbringen und fortführen soll.
Ich bin mir nach wie vor nicht sicher, ob die ganze Sache nicht eine gut gemachte Kampagne für das OnlyFans-Konto von Zara Dar ist. Es ist 2024, also wahrscheinlich ist es das. Der Punkt ist aber, dass ich selbst vielen Bekannten und Verwandten dabei zusehe, wie sie in den Jobs, in den von ihnen angestrebten und beschrittenen Karrierewegen, die so ganz anders beworben wurden als sie dann letztendlich waren, elendiglich zugrunde gehen. Sicherlich, Zara Dar geht einen extremen Weg, wenn sie direkt ins Pornobusiness ausweicht, aber was wir hier miterleben, ist nur die Spitze eines Eisbergs an Einstellungen, Lebensmodellen und tatsächlich begehbaren Karrierepfaden, auf den das Schiff unserer Gesellschaft ungebremst zurast. Die allgemeine Unzufriedenheit, die Loslösung der individuellen Erfüllung im Rahmen einer beruflichen Karriere, verstärkt und perpetuiert durch den kontinuierlichen Input aus sozialen Medien, bei gleichzeitigem Mangel an Möglichkeiten, diese Erfüllung zu finden, ist ein riesiges, zumindest hier in Österreich (aber auch woanders) nicht in Angriff genommenes Problem. Denn dieses unbedingte Wollen (aber eben nicht können) endet in einer (bei Zara Dar im wahrsten Sinne des Wortes) pervertierten Form von Leben, das in absoluter Form auf die Deckung der Bedürfnisse des jeweiligen Individuums ausgerichtet ist und mögliche gesellschaftlichen Anliegen nicht nur ignoriert, sondern geradezu ablehnt. Und das spiegelt sich natürlich auf allen Ebenen bishin zum Wahlergebnis wider; sowohl in der Kritik als auch am angestrebten Ziel.
Das Ziel wirkt auf den ersten Blick einfach: Jedes Mittel ist recht, um persönlichen Reichtum zu erwerben, der als das ultimative Mittel für die individuelle Freiheit (im Sinne von Unabhängigkeit) gesehen wird. Auf den zweiten Blick wird aber bald schon klar, dass dieser Zustand der „individuellen Freiheit“ gar nicht so individuell und schon gar nicht so frei ist, wie man denken mag. Mit dem Wohlstand kommt die inhaltliche Leere, mit dem Reichtum werden aus Möglichkeiten Gewissheiten und die Qual der Wahl macht auch dieses, nunmehr sinnentleerte Leben, langweilig. Es folgen U-Bahn-Surfing und andere TikTok-Challenges oder was auch immer Menschen anderer Generationen gerade attraktiv zu sein scheint, um der Leere zu entgehen, an die man nie gedacht hat als man noch mit dem alltäglichen Kampf ums Überleben beschäftigt war. Reisen, Autos, Immobilien, you name it!
Zara Dar erwähnt, dass sie bereits eine Million US-Dollar verdient, sich ein Haus gekauft, ein Investment-Portfolio angelegt und den Kredit ihrer Eltern abbezahlt hat. Und gleichzeitig möchte sie sich in Zukunft weiterhin den (populär-) wissenschaftlichen Themen auf ihrem YouTube-Kanal widmen. Sie wechselt also ins Pornobusiness, um die materiellen Bedürfnisse ihrer Existenz nicht mehr nur decken zu können – das hat sie ja schon während des Studiums gemacht -, sondern, um dann erst recht das machen zu können, wonach ihr ist, weil sie sich um Stipendien, Förderungen und Projektbudgets nicht kümmern möchte. Sie pickt sich also den einen Teil heraus, der ihr Spaß macht, und lehnt das, was innerhalb dieser Karriere damit einhergeht, so dermaßen ab, dass die Ablehnung, den Schritt, hauptberuflich OnlyFans Creator zu sein, begründet und nährt. Was für ein Sinnbild und was für eine Bestätigung, dass das Cherrypicking über Aspekte des Lebens zur obersten Handlungsmaxime geworden ist. Und wenn das in einem einzelnen Leben schon so ist, wie sollte es dann im gesellschaftlichen Leben anders sein?
Diese Art des Zugangs zu einem Leben bringt mich aber auch schon nahe an die Kritik, mit der man konfrontiert ist, wenn man sich Karrieren wie die von Zara Dar genauer ansieht. Die Kritik leitet sich meiner Meinung nach nämlich häufig aus der Tatsache ab, dass Personen verwundert und enttäuscht darüber sind, nicht Cherrypicking betreiben zu können und – horribile dictu! – das ganze Package an Verantwortung und Verpflichtung mittragen müssen, die mit dem Erfolg, der guten Bezahlung und anderen positiven Eigenschaften einhergehen. Oh mein Gott, ich muss dieses und jenes tun, um die Früchte meiener Arbeit auskosten zu können; ich will aber doch nur dieses eine tun! Ja, ein ziemlich absurd wirkendes und in meinen Augen doch illusorisches Abbild der Wirklichkeit, dem, so sieht es für mich zumindest aus, auch Zara Dar unterlegen ist.
Immerhin, sie beklagt nur ein paar wenige Dinge und entleert sich nicht mit Zauberformeln, die den gesellschaftlichen Anspruch transportieren, aber tatsächlich nur das eigene Versagen kaschieren. Wenn man sich genau anhört, was sie zu sagen hat, dann geht es ihr ja tatsächlich nur um (1) die Bezahlung, (2) den administrativen Aufwand der zukünftigen Tätigkeit und (3) das Teilen von Ruhm und Erfolg mit Vorgesetzten. Nicht zu hören bekommt man immerhin die sonst übliche Leier derer, die sich selbst in der Kritik der Umstände auf Wort- und Konzepthülsen stützen. Da müssen dann „alte, weiße Männer“ als Ventil herhalten. Oder die „fehlende Bildung“, „die Ausländer“, „Flüchtlinge“ oder, bei denen, die es bis heute nicht verarbeitet haben, die Auswirkungen der „Covid-Impfung“, die „Kirche“ oder gar „die Freimaurer“. Oder sonstige „Eliten“.
Es ist ein Desaster, dass all diese Umstände und Gründe in den allermeisten Fällen gemeinhein akzeptierte, argumentative Schutzmechanismen sind, die das Begründen (und Denken) erleichtern, nicht aber substanzielle Kritikpunkte, die man nachvollziehen und gegen die man einschreiten kann1. Zu oft, so meine Erfahrung, werden diese „Argumente“ wie Mantras und Glaubenssätze benutzt, um sich die qualvolle und häufig schmerzhafte Auseinandersetzung mit den wahren Umständen des eigenen Lebens zu ersparen. Sie bieten die erlösende Möglichkeit, die Historie des eigenen Lebens als vom Schicksal beeinflusst darstellen zu können, und unterbinden die in Wirklichkeit dringend notwendige Reflexion über die eigenen Entscheidungen, Erwartungen und Handlungen bisher. So kann nicht stattfinden – und dieses Können ist unter denjenigen, die solcherlei Argumente nutzen, als stiller, nie ausgesprochener, aber dennoch gemeinhin anerkannter Imperativ zu verstehen, weil völlig klar ist, dass damit die Seifenblase der Illusion, die einen vor der ultimativen Feststellung, sein Leben selbst verbockt oder, in einer milderen Form, nicht genügend für die Verbesserung der Situation getan zu haben, sofort platzen würde – was dringend notwendig wäre.
Wie vielen in meinem Umfeld würde es gut tun zu akzeptieren, dass es einfach keinen Sinn macht, sich über einen miesen Job mit der Begründung aufzuregen, dass die Situation ungerecht sei, weil man ja dieses und jenes Studium in dieser und jener Stadt (außerhalb der Heimatstadt) absolviert habe; und dass es nicht sein kann, dass jemand ohne Ausbildung, ohne Studium, ohne welche Ehren und Würden auch immer, erfolgreicher sei als man selbst. Doch diese Akzeptanz ist weit entfernt aus dem Vorstellungshorizont dieser Menschen. Vielleicht ist es ja wie bei einer Trennung von einem geliebten Partner oder einer geliebten Partnerin: Man benötigt, wie lautet die Formel?, die Hälfte der Jahre des Zusammenseins, um über so eine Person hinwegzukommen. Vielleicht ist es ja auch hier so, dass man eine für ein Menschenleben doch recht lange Zeit benötigt, um festzustellen, dass die Jahre der (ohnehin instinktiv als sinnlos wahrgenommenen) Ausbildung auch tatsächlich sinn- und nutzlos waren; dass man sich diese Jahre ersparen hätte können; dass es wahrscheinlich besser gewesen wäre, gleich einen Job anzunehmen und sich um die eigenen Interessen zu kümmern (wie es Zara Dar tun will); dass es völlig in Ordnung ist, alles bisher Geschehene, all die Jahre und Mühen, als nichtig zu erklären, um den Ballast, den man mitschleppt, ablegen und sich endlich – endlich! – frei bewegen und Entscheidungen treffen zu können, die nicht von einer Tangente abgeleitet sind, die einen nur Kraft und Energie kostet und dabei kaum voranbringt.
Ich habe größten Respekt vor Menschen, die genau das tun. Vor denen, die feststellen, dass sie bisher lediglich gesellschaftlichen (elterlichen?) Erwartungen entsprochen zu haben statt das eigene Glück zu finden. Denn egal, wann die Erkenntnis kommt, es ist gut, dass sie kommt. Nichts ist schlimmer als ein Leben gelebt zu haben, von dem man weiß (!), dass es nicht das Leben ist, das man will.
Nie war es wahrer, seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Und gleichzeitig war es nie schwieriger herauszufinden, was Glück für einen selbst eigentlich bedeutet.
- Das bedeutet nicht, dass all die genannten Gründe nicht sehr wohl gerechtfertigt sein können. Was ich hier aber konkret meine, ist, dass sie ungerechtfertiger Weise herangezogen werden, wenn offensichtlich ist, dass es eben gerade nicht die genannten Gründe sind, die für das individuelle Schicksal derer, die sie gerne, oft und laut ansprechen, verantwortlich sind. ↩︎