Von der Stadtwerdung Wiens

Wer Doderers Strudlhofstiege, Die Dämonen, Die erleuchteten Fenster oder die Werke von Stefan Zweig oder Joseph Roth gelesen hat, dem ist ein bestimmtes Bild der Stadt Wien bekannt, das sich weniger aus Eingrenzungen durch Straßennamen oder aus der Benennung von Vierteln zusammensetzt, sondern durch Örtlichkeiten, die nach den in ihnen ansässigen Unternehmungen oder nach ihrer Funktion benannt werden. Wer allerdings vor zehn Jahren ein solches Bild Wiens erwartet hat, der wurde enttäuscht. Bis auf die Kriegsgeneration konnte kaum jemand all die belebten Stellen nennen, die vor den beiden Kriegen alltagsnotwendiges Wissen waren. Diverse Märkte, Gast- und Kaffeehäuser, die damals ihrer Umgebung Namen verleiht haben, waren plötzlich unbekannt. Und auch heute tun sich viele schwer, wenn sie Kohl- oder Fleischmarkt, Hohen Markt und Lände auf der Karte rasch finden sollen. Diese Namen, diese Bezeichnungen haben an Aktualität verloren. Die Flohmärkte, die am Kohl- oder Fleischmarkt abgehaltet werden, verkaufen sowieso nur mehr Bockwurst á la tyrolienne oder kitschige Kristall-Schwäne, der Hohe Markt ist sowieso nurmehr ein riesiger Parkplatz und die Lände wird von manchen sogar für den Kai gehalten. – Es ist also nahezu unmöglich einen Ort zu finden, der einem durch die Beschreibung seiner Funktion oder seines Lebens vergegenständlicht wird.

Ganz im Gegensatz dazu ist es auf internationalem westlichen Parkett üblich, nach wie vor Gegenden aus ihrer Bedeutung für die Menschen heraus Namen zu geben. Paul Auster kann in seiner New York-Trilogie von Örtlichkeiten sprechen, deren Namen von Geschäften, Bars und Restaurants näher definiert werden. Das Private hielt vor langer Zeit Einzug in das Alltagsvokabular und es ist nach wie vor – siehe Sex and the City, Ally McBeal oder Desperate Housewives im englischen Sprachraum als Ortsbezeichnung vorhanden.

Ob es nun vorteilhaft ist, seine Stadt so zu benennen, wie es sich darin lebt, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass nahezu alle mir bekannten Städte – außer die deutschsprachigen – durch das Vokabular der in ihr lebenden Menschen benannt sind und nicht durch ein von oben draufgesetztes Etwas, dass sich aus Straßennamen, Plätzen und Promenaden zusammensetzt, deren Namen an Helden, Staatsmänner und Freiheitskämpfer erinnern, welche vom hier und jetzt lebenden Volk entweder gar nicht oder nur sehr spährlich gekannt werden. (Sicherlich gibt’s auch Ausnahmen.)

Doch heute geschah etwas, das mich nun wieder hoffen lässt. Auch Wien wird wieder zu dem, was es einst war: Wien wird wieder in Einflusszonen von Geschäften, Restaurants, Bars, Konzerthallen, Diskotheken und dergleichen eingeteilt. Die Menschen benennen ihre Stadt wieder. Sie stützen sich nicht mehr auf Geplantes und Gemachtes, sie agieren selbst indem sie benennen.

Im Radio hat heute eine Moderatorin den Weg über die Mariahilfer Straße – ohne den Namen der Straße selbst je zu nennen – als „das Vergnügen“ beschrieben, sich „vom Westbahnhof beim Benetton über den Bortolotti am H&M vorbei bis zu den Museen“ durchzukaufen. Sie ist aber nicht der einzige Mensch, bei dem mir das aufgefallen ist. Angelika Hager (a.k.a. Polly Adler) hält sich in ihrer Kurier-Freizeit-Kolumne auch an diese Art, Orte zu beschreiben. Auch Kollegen bezeichnen Orte mit Geschäftsnamen oder Plätze nach den dort ansässigen Kaffeehäusern, Eisdielen werden Synonyme für kleinere Parks und U-Bahn-Stationen bezeichnen teilweise schon ganze Gegenden.

Was nun noch fehlt sind die Bezeichnungen nach Vierteln. Der Wiener hält sich eigentlich noch brav an die Bezirksbezeichnungen, obwohl auch da schon starke Einbrüche festzustellen sind: die Immobilienwirtschaft hält sich sowieso nicht daran – hier ist es offenbar en vogue von Cottagevierteln, Industrievierteln oder in k.u.k. – verherrlichendem Ton von Alt-Wiener Wasauchimmer zu sprechen. Monte Laa, Mons Vienensis (Wienerberg! – zu sehen neben den Twin Towers!), etc. bilden auch Bezeichnungen, die nichts mehr mit Computerstraße oder Heldenplatz gemein haben.

Mir persönlich gefällt diese Tendenz, Mons Vienensis ausgeschlossen!, ich hoffe hier einen Wandel mitzuerleben. Einen Wandel zu internationalen Standards, zurück zu dem, was es einmal war, wenn ich das salopp so formulieren darf. Die in der Stadt lebenden Menschen fangen nichts (mehr) an mit einer überbordenden Anzahl an Helden, Staatsmännern und Künstlern. Ihnen soll im ersten Bezirk gehuldigt werden, im Regierungsviertel oder an verschiedenen anderen in Wien verteilten Stellen (á la Paris), aber das alltägliche Verhalten der hier lebenden Menschen, ihr regelmäßiges Zusammenkommen in Cafés, Restaurants, Bars und in Geschäften soll die Namensgebung verschiedener Gegenden weiterhin beeinflussen. Wien wird wieder eine Stadt, eine plastische!