Wie eine Kinderärztin impfskeptische Eltern überzeugt

Eine Kinderärztin konfrontiert impfskeptische Eltern mit den Folgen, die eine Ablehnung empfohlener Impfungen für ihr Kind mit sich bringt. In vielen Fällen relativiert das die Impfskepsis.

Jason Kottke hat auf Bluesky einen Thread gefunden, in dem jemand beschreibt, wie eine Kinderärztin impfskeptische Eltern von der Impfung überzeugt.

So my wife is a pediatrician and works in some hospitals with high vaccine and intervention hesitation (suburban ones). She has found tremendous success by just letting the families know she will have to document the higher risk of specific, and often fatal illness, in the chart of their child. She explains that if their child goes to the ER, the ER might not think to ask about routine newborn care that the parents opted out of, so by putting it in the chart she might be saving the child from this very specific thing. But just as important it makes it feel REAL to the parents. She identifies and describes the specific thing that their child is now more likely to die from. In detail, including symptoms to watch out for. It’s not abstract. It’s visceral.

Andrew Miller

Angesichts des ersten Todesfalls eines Kindes in Folge einer Masern-Erkrankung seit 2015, der so dermaßen leicht zu verhindern gewesen wäre, hätten die Eltern das Kind geimpft, vielleicht eine Möglichkeit? Im Thread auf Bluesky habe ich aber ein Statement gefunden, das meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, weil mir die Idee, die eine Userin da vorschlägt, gefällt.

Die Entscheidung ist frei, muss aber begründet werden

Auf Bluesky meint eine Userin nämlich, es wäre gut, wenn alle Entscheidungsträger (im Falle von Kinderärzten eben auch Eltern) ihre Meinung bzw. Entscheidung schriftlich begründen müssen. Es gibt keinerlei Repression, egal, wie die Entscheidung ausfällt; die Begründung muss aber abgegeben werden.

Wenn man diesen Gedanken einmal durchspielt, so würde schnell klar, vor allem aber sehr deutlich werden, dass wir auf der einen Seite, nämlich der des medizinisch ausgebildeten Personals, auf tausende wissenschaftliche Artikel aus den unterschiedlichsten Wissenschaften setzen können, die anhand abertausender Testreihen diese und jene Wirkung, sowie Nebenwirkungen nachweisen und intersubjektiv nachprüfbar belegen, sowie Auswirkungen (in allen möglichen Bereichen) auf das Individuum und die Gesellschaft darstellen können. Dem gegenüber steht dann (im oben genannten Beispiel wären das die Belege der Eltern) ein Video auf YouTube, eine Nachricht auf X, zwei Messages in einer Telegram-Gruppe oder die Aussage von XY, eine Person, die zwar niemand kennt, der (oder die) aber ein „ausgewiesener Spezialist“ in diesem oder jenem Gebiet ist.

Die Begründung sollte natürlich frei und rechtlich geschützt sein, somit niemanden davon abhalten können, auch erprobte Impfungen (für seine Kinder) nicht durchführen zu lassen. Es soll lediglich dokumentiert werden, das allerdings verpflichtend, auf Grund welcher Quellen und Begründungen Personen die Empfehlung von in ihrem Fachgebiet ausgebildeten Profis ablehnen. Volle Transparenz also; und das über Generationen hinweg. Und damit niemand auf die Idee kommt, dass hier Manipulation stattfindet, sollten diese Dokumente aufbewahrt und in die medizinische Akte der Kinder aufgenommen werden, damit diese als Erwachsene nachvollziehen können, auf Basis welcher Quellen ihre Eltern vor Jahren die empfohlene Impfung verweigert (oder zugelassen) haben. So bleibt diese Diskussion im Falle des Falles innerhalb der Familie und kann von außen nicht beeinflusst werden.

Ich wäre allerdings gerne dabei und würde nur zu gerne zuhören, wenn jemand, der aufgrund des Fehlens einer üblichen, erprobten und millionenfach durchgeführten Impfung bleibende Schäden davonträgt, mit der Entscheidungsgrundlage seiner Eltern konfrontiert wird, die aus einem Screenshot auf Telegram besteht.

Noch etwas zum Thema Masern

Und noch etwas zum Thema Masern, deren Verbreitung ja den traurigen Anlassfall bedingt. Zeynep Tufekci hat in der New York Times einen Beitrag veröffentlicht, in dem sie uns daran erinnert, dass mit Masern nicht zu spaßen ist, da sie weit mehr als nur eine lästige Krankheit sind. Man weiß nun, dass Masern das Immunsystem massiv schwächen; so sehr, dass sogar erworbene Immunität gegenüber anderen Krankheitserregern in einem Aufwasch mit verloren geht, wenn die Masern ihre volle Wirkung entfalten können.

Research about the virus […] tells a new and very different story, recasting what was previously known about how measles works […] That research […] revealed that measles destroys immune cells. Even people who recover from the virus lose much of their immune memory, and therefore the protection they had acquired from prior infections or vaccines to all the other childhood illnesses. […] Measles is one of the most transmissible diseases known to humanity. Children don’t get their first vaccine dose until after 12 months, and full protection doesn’t kick in until they get their booster, usually when they’re between 4 and 6. […] Overall, the vaccine is highly effective and the rare breakthrough cases — a few in a thousand exposures — tend to be mild.

Zeynep Tufekci

Warum aber nun impfen? Weil die Impfung nicht nur das Individuum, sondern viel mehr auch die Gruppe schützt. Epidemiologisch betrachtet ist die geimpfte Person eine Sackgasse für das Virus, eine ungeimpfte eine Autobahn. Und es mäht nicht nur Alte und Kranke dahin. Es gibt Aufzeichnungen darüber, wie gesunde, junge Münner von der Krankheit hingerichtet wurden. Aber mit denen will sich ja niemand beschäftigen.

The only guaranteed way to protect people from this deadly disease is to keep it from circulating in the first place. But nationwide, vaccination rates have been trending downward, producing such large pockets of vulnerable people that outbreaks in one community can now bleed over to another […] A newly circulating virus would mean some unvaccinated people would encounter measles for the first time in adulthood, when the danger it poses is much higher. This effect was evident in World War I, when healthy young conscripts from rural areas had their first exposure to the disease in Army training camps. The result was the worst outbreak the military had seen in almost a century. Thousands of soldiers died.

Zeynep Tufekci

Was diesen noch sehr sachlichen Abschnitten in Zeynep Tufekcis Artikel folgt, ist ein Rant, wie ich ihn noch nie von der zwar lauten, aber in ihren Argumenten immer zurückhaltenden und selbst gegenüber teilweise absurden Gegenstimmen Respekt zeigenden Wissenschaftlerin gelesen habe. Sie zerpflügt allerdings die Agenden, Einstellungen und Überzeugungen des neuen Gesundheitsministers der Trump-Administration, Robert F. Kennedy Jr., da sie unwissenschaftlich, vollkommen fehlgeleitet und eine Gefahr für Leib und Leben von US-Amerikanern sind.

I might run out of not just column space but an entire newspaper if I tried to list all the false and misleading claims Kennedy made about vaccines in his many speeches and books. […] During a deadly outbreak, we’d ordinarily hope for a clear, direct call for parents to vaccinate their children. But this is the man who, during a 2019 measles outbreak in Samoa that killed 83 people (79 of them children), actively worked to undermine public trust in the one thing that would have helped most. America, brace yourself. […] Some Americans live deep in echo chambers where most of what they hear about vaccines are lies and disdain. It won’t be possible to reverse all this quickly. Perhaps the best we can do is inform parents skeptical of vaccines what they’re risking, before it’s too late.

Zeynep Tufekci

Und genau das ist es, was die eingangs erwähnte Kinderärztin macht. Sie informiert. Wenn Eltern sich, wodurch auch immer geleitet (ich vermeide bewusst das Wort „fehlgeleitet“), dagegen entscheiden, dann liegt es in ihrer Verantwortung, ihrem Kind und der Gesellschaft, in der sie leben, Leid zugefügt zu haben.

Wissenschaft oder doch quasi Religion

Aber ja, es wird weiterhin Masernpartys geben, es wird weiterhin irgendwelche Überzeugungen geben, die sich aus irgendwelchen Gerüchten manifestieren. Es wird weiterhin Menschen geben, die der Wissenschaft nicht vertrauen, dafür auf Quantenphysik, Eingebungen und die Stimme Gottes hören werden, auf Zeichen, die sie im Maisfeld sehen, oder auf die überlieferten Erzählungen ihrer Großeltern hören, die in einer ja mit der heutigen ach so vergleichbaren und genauso international vernetzten Welt aufgewachsen sind. Und die Masern (und andere Krankheiten) werden sich munter verbreiten, Menschen werden Sterben oder bleibene Schäden davontragen, und das alles, weil die einzige Waffe, die die Menschheit gegen Krankheiten eines solchen Kalibers aufbringen kann, von ihnen abgelehnt wird.

Was wie eine Verurteilung klingt, soll aber keine sein. Ist man einmal in einen Argumentationskreislauf geraten, der bestimmte Kausalitäten plausibel macht und gewisse, bislang respektierte Argument für (das Impfen) oder dagegen infrage stellt, dann ist es häufig schwierig, dagegen zu argumentieren; coram publico oder für sich selbst in stiller Reflexion. Das ist ja auch der Grund, warum manche der Antworten, die Immunologen, Epidemiologen und andere, die während der Corona-Pandemie Interviews gegeben haben, eineng großen Teil der Bevölkerung nicht überzeugen konnten, da die Interviewsituation es nicht zuließ, schwierige, mehrdimensionale und voneinander abhängige Sachverhalte ruhig und angemessen darzustellen. Stattdessen mussten diejenigen, die sich über Jahre hinweg mit diesen Sachverhalten und Kausalitäten beschäftigten, hunderttausende Seiten an Wissen in eine Antwort verpacken, die eine Aufmerksamkeitsspanne von zwanzig oder dreißig Sekunden nicht überschreiten durfte. Dass das zu Zweifel führen kann, liegt auf der Hand.

Vielleicht wäre es also gut, wenn wir die Funktionsweise von Wissenschaft nicht davon ausgehend präsentieren, dass Menschen Wissen schaffen wollen, sondern viel mehr, dass wir sie überzeugen müssen, dass Wissen Leben retten kann und auch das Wissen der Großeltern, Eltern oder sonstiger Menschen, auf die man hört, Resultat des Schaffens von Wissen voriger Generationen ist. Religion – und meiner Meinung nach ist alles quasi religiös, was sauberer wissenschaftlicher Arbeit entgegengesetzt wird – wird uns vor den Herausforderungen, die uns eine Welt, von der die großen Religionen niemals gewagt hätten zu träumen, nicht retten. Ein paar Eltern, die Respekt vor der Meinung derjenigen haben, die ihre Leben der Schaffung von Wissen und somit der Rettung von Leben widmen, allerdings schon.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Benachrichtige mich bei Reaktionen auf meinen Kommentar. Auch möglich: Abo ohne Kommentar.