Ich lese im Standard über den Messerangriff in Villach und über die von dem Verbrechen genährten, üblichen Forderungen der Politik.
Innenminister Gerhard Karner […] forderte mehr Befugnisse für die Ermittlungsbehörden und kündigte Pläne an, anlasslose Massenkontrollen durchzuführen. Auch Terrorismus-Experte Peter Neumann sprach sich in der ZiB 2 für mehr technische Möglichkeiten für die Polizei und strengere politische Kontrollen für Plattformen wie Tiktok aus, da sich immer mehr Islamisten über das Internet radikalisieren würden.
Der Standard
Ich habe mich immer gefragt, immer schon, wie erfolgreich solche Programme sein können. Sie funktionieren ja erst dann, wenn bereits ein Weg beschritten und das Innere eines Menschen sich schon für eine Richtung entschieden hat. Sie können erst dann aktiv werden, wenn die Handlungen einer Person der inneren Überzeugung Person folgen. Der Zeitpunkt, der wichtig wäre – nämlich der des Wandels der inneren Überzeugung – liegt ja in dem Moment, in dem eine „anlasslose Massenkontrolle“ greift, bereits in der Vergangenheit. Die Überwachung kann nur die Tat erkennen, nicht die Überzeugung.
Ebenso im Standard lese ich aber auch über ein Uni-Projekt (frag.imam), das islamistischen Predigern auf Tiktok den Kampf ansagt und damit genau dort, also lange vor der anlasslosen Massenkontrolle (oder der politischen Kontrolle für Plattformen wie Tiktok) ansetzt. Das ist einmal ein etwas anderer Zugang als die sonst üblichen Forderungen, die zwar Härte beweisen, aber das Ziel verfehlen. Sinnbildlich will das Uni-Projekt impfen und tätig werden, noch bevor es zur Krankheit kommt; die Exekutive hingegen möchte die bereits von der Gangrän befallenen Körperteile schneller entfernen können. Wir alle kennen die Persistenz besonders von Jugendlichen, wenn es darum geht, auf Verbote zu reagieren. Wie kann man da überhaupt noch fragen, welches der beiden Mittel besser funktionieren kann?
Junge Musliminnen und Muslime in Europa machen sich im Internet auf die Suche nach Antworten darauf, wie sie sich mit ihrem Glauben in einer christlich-säkular geprägten Gesellschaft zurechtfinden können. Es beginnt mit Fragen des Alltags: ob Piercings gestattet, ob Oralsex verboten ist und Halsketten für Männer okay sind. […] Die islamistischen Influencer „haben früh erkannt, wie gut man auf Tiktok und Co junge Menschen erreichen kann, sind dort sehr präsent, sprechen ihre Sprache und kennen ihre Ausdrucksweisen“. Ihnen würden sie ein Angebot machen: „Und es gibt kein nennenswertes Gegenangebot.“
Der Standard
Und ja, ich glaube, dass gerade der letzte Satz im Zitat eine gewichtige Botschaft in sich trägt. Wo, ja bitte wo ist denn das Gegenangebot? Und wenn wir von „Gegenangebot“ sprechen, dann meint das nicht ein auf dem Papier bestehendes, womöglich mit ChatGPT verfasstes Bla bla, das jeder Jugendliche in weniger als drei Sekunden als Floskeln erkennt und sich davon abwendet, sondern ein ehrlich gemeintes, tiefgründiges, auf den innersten Säulen unserer Gesellschaft basierendes, von zumindest den meisten gelebtes (Gegen-) Angebot? Wo findet man das? Auf Tiktok definitiv nicht.
Außer ein wenig in Selbstironie aufgehende Skihüttenromantik, von gewinnorientierten Kulturveranstaltern propagierter Kulturfetischismus oder schlicht und einfach alles, was man zum Thema Schnitzel herausbrüllen kann, findet sich da nichts. Mir ist, aber vielleicht gibt es diese Influencer ja irgendwo, kein Kanal bekannt, der unsere westliche Kultur, unsere Gedankenwelt, unsere Einstellungen zu bestimmten Themen, ja, das, was wir gemeinhin als unsere Werte bezeichnen, glaubhaft (!) vermittelt ohne dabei massig auf irgendwelche langweiligen Nationalmythen zurückzugreifen. Wir befinden uns mit der Vermittlung – nein, wir sind noch etliche Stufen davor; die Vermittlung hat noch gar nicht begonnen – oder eben mit der Definition unserer Werte in einer paradoxen Situation, die Slavoj Žižek so ähnlich zum Thema Ideologie in einem Vergleich mit dem Film Kung Fu Panda schon mehrfach beschrieben hat: Obwohl wir wissen, dass all die vermittelten Bilder (unserer Werte) nicht der Wahrheit entsprechen und wir uns darüber sogar lustig machen, glauben wir daran und extrahieren daraus Werte, nach denen wir leben. In anderen Worten: Irgendwo, hinter all dem Sarkasmus, der Ironie, hinter dem Zynismus, den wir an den Tag legen, wenn wir uns über uns unterhalten, wenn wir über unsere Sitten oder unsere Werte sprechen, gibt es einen roten Faden, eine Orientierungslinie, die man aber erst mühevoll finden, aus dem Wortmaterial, das sie verdeckt extrahieren muss.
Ohne vermittelte Orientierungshilfe, das sind Kommentare oder Reaktionen unserer Eltern, unserer Großeltern, Statements, mit denen wir aufgewachsen sind, eine Auswahl von Texten, die wir gelesen haben, Geschichten, die uns erzählt wurden, wird das schwierig. Und besonders schwierig wird es für Jugendliche, die nicht den Luxus hatten, in eine Kultur eingeführt zu werden, noch dazu, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, in dem sie womöglich besonders anfällig sind. Und nun sind wir wieder an dem Punkt, wo das Projekt der Universität ansetzen möchte, denn wenn ich mir ansehe, welche Probleme unsere verklausulierte Vermittelung von Werten und Normen in einer von offensiven Tiktok- und sonstigen Videos umgebenen Gesellschaft hat, dann muss ich schon sagen: Ohne Gegenangebot wird es schwierig, eine langfristige und nachhaltige Lösung für das Problem der unsere Werte wahrscheinlich gar nicht so sehr verachtenden, sondern mehr sie gar nicht erst verstehenden (und das Unbekannte verachtenden), inneren Einstellung zu finden.
Somit stellt sich die Frage noch einmal, viel prägnanter: Wenn wir es selbst nicht schaffen, das, was wir als „unsere Werte“ gerne vermitteln würden, zu benennen, zu beschreiben und aus dem von Sarkasmus, Zynismus und Ironie geprägten Umfeld zu befreien, wie soll dann ein verunsicherter Jugendlicher, der nach Orientierung sucht, der ganz praktische Fragen zum Leben hat, auf die solche Werte für gewöhnlich Antworten lieferen, wie soll also so ein Jugendlicher, der im Luxus einer westlichen Gesellschaft lebend womöglich zum ersten Mal vor der Wahl steht, sich für ein Lebensmodell entscheiden zu können, unsere Lebensweise verstehen, wenn es kein Angebot für ihn gibt, es überhaupt kennen zu lernen? Noch schlimmer, es gibt ja nicht einmal eine Instanz in unserer Gesellschaft, die unsere Werte vermitteln könnte, die dafür auftritt, unsere Werte zu vermitteln, die sich in den Mittelpunkt stellt und den Alltag aus unserer Sicht interpretiert und erklärt. Das ist ein Problem, meint man auf beiden Seiten des politischen Spektrums, aber nicht nur ich sehe keine Lösung.
Und dann kommt irgendein radikalisierter, seine mittelalterliche Sichtweise modernen Lebens propagierender Tiktok-User daher und gibt klare Antworten auf banale Fragen. Man merkt, er macht das nicht, weil er die Förderung irgendeiner Institution rechtfertigen und alle zwei Tage ein Video hochladen muss, sondern aus einer inneren Überzeugung, die ihn weit mehr, weit besser und viel näher an den potentiellen Kunden agieren lässt. Man merkt, seine Statements sind von persönlicher Erfahrung geprägt und keine, von Juristen zusammengestellten, gut klingenden, von den relevanten Parteien abgesegneten, aber substanzlosen Phrasen, die sich für einen durchschnittlich begabten Jugendlichen nach den ersten eineinhalb Sekunden schon als vorgeschobener Grund und nicht als ernst und ehrlich gemeint entpuppen.
Wo, also, ich stelle die Frage noch einmal, ist denn nun das Gegenangebot? Was können wir einer Gedankenwelt entgegen halten, die sich als voller Ansichten und Werte entpuppt, die an Absurdität kaum zu überbieten sind? An wen können sich die Verunsicherten, Alleingelassenen und Zweifelnden in unserer Gesellschaft wenden? Wo finden sie Leitlinien, Orientierungshilfe und Zuspruch? Warum muss es erst soweit kommen, dass sie online nach einer Familie suchen, der sie sich öffnen und deren Vorstellungen von Leben sie inhalieren können?
Denn eines ist klar: Besiegen (oder zumindest: in Schach halten) wird man eine Ideologie nicht, in dem man sie mit anlassloser Massenüberwachung und Gewalt niederschlägt. Das sind Optionen, die zu spät greifen. Sie werden nach dem entscheidenden Moment wirksam, der eine Person in die Hände derer getrieben hat, die die zu bekämpfende, wenn nicht sogar gefährliche Ideologie promoten. Wir brauchen ein echtes, glaubwürdiges kulturelles und identitätsstiftendes Gegenangebot, das bereits greift, noch bevor es dazu kommt, dass sich ein junger Mann berufen sieht, andere auf offener Straße zu mit dem Ziel anzugreifen, selbst dabei drauf zu gehen, oder eine junge Frau, die sich freiwillig, zur Gebärmaschine degradiert, auf die Reise in ein gelobtes Land begibt.
Man kann diese beiden als irre, verwirrt, dumm oder sonst etwas bezeichnen, aber ihre Entscheidungen zu tun, was sie getan haben, basiert auf vorangehenden Problemen, Abweisungen von denen, die ihnen helfen hätten können, Zurückweisung und, ganz allgemein, einem problematischen Umfeld, das auch dann problematisch ist, wenn es gar nicht existiert, weil die paar Menschen, die potentiell hätten helfen können, schlichtweg nicht da waren, als die Betroffenen sie am meisten gebraucht hätten.
Ihnen beiden hätten wir alternative Lebensmodelle zeigen müssen. Ihnen beiden hätten wir mehr Zeit schenken, ein angenehmeres, von uns geprägtes Umfeld bieten müssen. Ein paar „acts of kindness and love“, wie es in The Hobbit heißt, hätten wohl genügt. Diese Zuneigung, dieses Verständnis, ein positiver Kommentar, ein ermutigender Wink, Zuspruch in seiner basalsten Form, all diese kleinen Gesten hätten bereits in einer Phase Wirkung entfalten, in der die Ablehnung unserer Lebensweise/der westlichen Kultur noch nicht einmal ein Thema gewesen wäre. Die „acts of kindness and love“ bewirken Stabilität, Zugehörigkeit und ein solides Wertefundament. Genau hierin liegt der Moment des Gegenangebots zur Herausforderung, die diesen Menschen auf Tiktok, Instagram oder sonstwo online begegnet. Sind sie stabil verankert, fühlen sie sich in einer Familie, in einem Freundeskreis, in einer Gemeinschaft und in einer Gesellschaft aufgehoben, stellt sich die Frage nach alternativen Regeln erst gar nicht.
Saruman believes it is only great power that can hold evil in check, but that is not what I have found. I found it is the small everyday deeds of ordinary folk that keep the darkness at bay… small acts of kindness and love.
Gandalf, in The Hobbit
Ich fürchte, wir machen es uns alle zu leicht, wenn wir mit großen Geschützen auffahren und uns entspannt im Sessel zurücklehnen, wenn wir von Uni-Projekten wie frag.imam und diesen oder jenen Maßnahmen, die die Exekutive setzt, hören und lesen. Überwachung hier, Kontrolle da und was weiß ich, was es da noch für Ideen gibt, wie man etwas bekämpfen kann, das zu dem Zeitpunkt bereits seinen Lauf genommen und nicht mehr aus den Köpfen der Menschen zu bekommen ist. Vielleicht ist es ein freundliches Wort im Supermarkt an der Kassa, ein zustimmendes Nicken, das die Betroffenen sehen können, eine bejahende Geste, die unsere Leute wie auch die, die bei uns sein wollen ab und an benötigen, damit sie sich sicher sein können, Teil einer Gemeinschaft zu sein, vielleicht kein prominenter, aber doch ein Teil. Denn ich glaube, dass das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, der einzige Grund ist, die einzige Motivation; dieses Gefühl ist alles, wonach Menschen suchen, die in die Hände derer gelangen, die ihnen genau das vorgaukeln ohne es zu meinen. Sie wollen schlichtweg von irgendjemandem gehört werden und sich verstanden fühlen.
Und wenn sich das, was einem online vorgegaukelt wird, besser anfühlt als das, was einen tagtäglich beim Bäcker, im Supermarkt oder zuhause umgibt, dann ist das ein Armutszeugnis, dem man mit Hilfe, Nachsicht und, ja, mit alltäglichen „acts of kindness and love“ begegnen muss. Denn die Einstellung, etwas nicht zu tun, weil man Angst vor der Konsequenz hat, ist wertlos im Verhältnis dazu, etwas nicht zu tun, weil man von einem als besser wahrgenommenen Gegenmodell überzeugt ist, es gut kennt und es leben will. Dieses Gegenmodell sollte aber auch attraktiv genug sein, damit wir alle stolz über die darin vermittelten Werte sagen können, sie seien unsere.
Die Motivation, nach diesen Regeln und Werten zu leben, muss gemeinhin spürbar und nicht von Sarkasmus und Zynismus geprägt sein. Vielleicht haben ja einige Kulturkritiker und -kritikerinnen recht, wenn sie beklagen, dass die Fundamente unseres Wertesystems aufgeweicht werden, wenn sie dekonstruiert, kritisiert und teilweise sogar als schlechte Beispiele, die diesem oder jenem Recht entgegenwirken und heutzutage antiquiert wirken, genannt werden, während der Junge im Kindergarten einfach nur so sein will, wie dieser eine Held in dieser einen Geschichte oder das Mädchen die Heldin jener anderen. Sollen sie doch! Sollen sie doch sein, die grundlegend ja nicht falschen Werte zu den ihren machen und sich dann damit auseinandersetzen und als Jugendliche oder Erwachsene erkennen, was an ihnen auszusetzen oder zu kritisieren ist. Aber die Grundlinie zählt, die Stoßrichtung. Sie muss in leicht verständlichen Geschichten vermittelt werden, denen man, egal wie intelligent und reflektiert man ist, leicht folgen kann. Wo sonst, wenn nicht in dieser einfachen Verankerung an der Leitlinie unseres Kulturkreises, sollten Verwirrte, Alleingelassene, aber eben auch Kinder Halt und Orientierung finden? Wird ihnen diese einfache Geschichte mit einfach zu befolgende Grundlinien menschlichen Handelns genommen, dann holen sie sich diese Leitlinien eben auf Tiktok, Instagram oder sonst irgendwo. Und wenn es einmal dazu kommt, dann ist es schon zu spät.
Also: Erzählt euren Kindern die althergebrachten Geschichten, vermittelt ihnen, wofür es sich zu leben lohnt, wie ein gutes Leben aussieht, wie man miteinander umgeht, wie Probleme und Konflikte gelöst, wie Herausforderungen angegangen werden. Hört ihnen zu, wenn sie Fragen stellen, und beantwortet ihnen ehrlich und mit Interesse an der Person diese Fragen ohne Urteil. Vor allem aber seid offensiv in kindness and love, denn manchmal sind eure Kinder auch zwanzig, dreißig oder sogar vierzig Jahre alt und wollen sich nur vergewissern, ob sie sich noch entlang der Linien bewegen, die ihre Altvorderen oder der sie aufgenommene Kulturkreis als so wertvoll erachtet, dass es gilt, sie nach wie vor zu berücksichtigen. Und manchmal sind sie gar nicht eure Kinder, sondern Fremde.
Seid ihnen Leuchtturm in stürmischer See. Jederzeit. Unnachgiebig und für immer. Sie müssen sich auf euch verlassen können.