William Deresiewicz zeichnet ein tristes Bild über das, was wir heute Freundschaft nennen, indem er die Wandlung der Bedeutung von Freundschaft im historischen Verlauf von der Antike bis in die Facebook-Gegenwart aufzeigt: Aus einer Beziehung zweier Menschen zueinander, einer intellektuellen, emotionalen, moralischen und in gewisser Weise physischen Beziehung, wurde ein Vokabel, das alle den Wortsinn definierenden Prädikate verloren hat und nur noch den Wunsch darstellt, Nähe ausdrücken zu können.
Freundschaft ist zu einem Gefühl eines Menschen für einen anderen geworden („Ich empfinde…“) und hat sich damit von ihrem Kernstück, dem Teilen („Wir sollten…“), entfernt. Alle Aspekte, die in einer Freundschaft Interaktion erforderten – der moralische Austausch, die Herausforderung und Diskussion von Werten, die Kompromissbereitschaft und das daraus hervorgehende Lernen im Umgang mit Widersprüchlichkeit und Eigenheit – sind aus dem Verständnis von Freundschaft verschwunden. Stattdessen ist das Konzept zu einer Worthülse ohne Konsequenzen geworden, an der wir dennoch festhalten, um uns einreden zu können, emotionale Nähe und soziale Einbettung zu verspüren. In William Deresiewiczs Worten:
Friendship is devolving, in other words, from a relationship to a feeling—from something people share to something each of us hugs privately to ourselves in the loneliness of our electronic caves, rearranging the tokens of connection like a lonely child playing with dolls. The same path was long ago trodden by community. As the traditional face-to-face community disappeared, we held on to what we had lost—the closeness, the rootedness—by clinging to the word, no matter how much we had to water down its meaning. […] What we have, instead of community, is, if we’re lucky, a „sense“ of community—the feeling without the structure; a private emotion, not a collective experience.
William Deresiewicz, 2009: Faux Friendship
Noch ist diese Definition moderner Freundschaft abstrakt („feeling without the structure“), doch William Deresiewicz zögert nicht, schnell auf die Nachteile und Einbußen einer solchen Definition hinzuweisen und konkrete Beispiele zu nennen. Wir haben beziehungstechnische Arbeit gegen Bequemlichkeit eingetauscht und reden uns ein, uns aufgehoben zu fühlen. Die eigene Bildung durch das Gespräch mit Freunden ist weit zurückgefallen. Was aber geblieben ist, ist ein billiger Abklatsch mit eigenen, von der althergebrachten Idee einer Freundschaft pervertierten Regeln. Warum denn auch nicht? „Freunde“ (im modernen Sinn) sind austauschbare Namen in einer langen Liste. Der Schmerz, einen davon zu verlieren, ist vernachlässigbar, ist er (oder sie) doch meist ohnehin nie in der Wärme des eigenen Lebens aufgegangen. – So dermaßen mies ist es, was wir heute als Freundschaft bezeichnen, was Deresiewicz unverblühmt anspricht:
We have ceased to believe that a friend’s highest purpose is to summon us to the good by offering moral advice and correction. We practice, instead, the nonjudgmental friendship of unconditional acceptance and support […] We seem to be terribly fragile now. A friend fulfills her duty, we suppose, by taking our side—validating our feelings, supporting our decisions, helping us to feel good about ourselves. We tell white lies, make excuses when a friend does something wrong, do what we can to keep the boat steady. We’re busy people; we want our friendships fun and friction-free.
„Fun and friction-free“. – Wie Puppen, mit denen ein Kind einsam in seinem Zimmer spielt. Und wenn eine kaputtgeht oder ihm nicht mehr gefällt, wird sie ausgetauscht. Unter diesem Blickwinkel wirkt eine Aussage wie „Leute, die keine gute Stimmung mitbringen, lade ich erst gar nicht ein,“ ganz normal, vor allem mit dem Zusatz: „auch wenn sie eigentlich meine Freunde sind.“ Das ist pervers, aber leider zur Normalität geworden.
William Deresiewiczs Artikel „Faux Friendship“ ist ein unbedingtes Muss für all diejenigen, deren soziales Leben sich mehr on- als offline abspielt. Und für alle anderen, die Freunde haben, auch.