Sonntagsarabesken #26

Es könnte sein, dass sich in diesem Augenblick zwei Leben kreuzen (zwei ganz bestimmte nämlich). Mit unsicherem Schritt geht der Mann die Straße entlang; seine Augen sind halb geschlossen, denn das Licht verursacht ihm Schmerzen. Seine Beine bewegen sich mechanisch, ruckartig, sie sind das Tanzen gewöhnt, bei den sogenannten normalsten motorischen Abläufen kommen sie jedoch in Schwierigkeiten. Er weicht ungelenk den Orangenbäumen aus. Eine Träne auf der linken Wange, er wischt sie nicht weg. Noch viele werden folgen. Aus dem dritten Stock des hoch aufragenden Eckhauses dringt Musik. Ein Klavier klimpert perlend, eine Geige setzt ein, dann das Bandoneon, schließlich die Stimme, eine rauchige, eine kratzende, eine prächtige Frauenstimme. Er spürt eine Regung zwischen seinen Schläfen. Vielleicht denkt sie an ihn? Kann das möglich sein? Warum nicht, sie schläft wahrscheinlich schon, aber sie kann doch träumen, ja, sie wird träumen, denkt er, sie träumt von ihm, es muß so sein! Regen hat das Kopfsteinpflaster schlüpfrig werden lassen, die glänzende Oberfläche reflektiert das blasse Sonnenlicht von unten her; er hebt den Kopf, um den Strahlen auszuweichen. Er dreht sich um den dünnen, knorrigen Stamm eines Baumes, weicht mit rascher Wendung dem nächsten aus, seine Füße, seine Beine bewegen sich im zunehmenden Wirbel der Musik, an den Fugen der Gehsteigkante streicht seine Schuhspitze behutsam entlang, ein schneller Schritt seitwärts, im Bogen nach vorne, drei schleifende Schritte zurück, ein zögerndes Verharren vor dem abermaligen Vorstoß. Zwei Passanten bleiben stehen und tauschen einen befremdeten Blick aus. – Am anderen Ende der Stadt (nein, eigentlich am anderen Ende des Erdkreises) geht die Sonne unter. Man schließt die Fenster vor der heran kriechenden Kälte. Noch ist nicht Frühling. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, den Blick durch einen Spalt in den Vorhängen gerichtet, und wartet auf die Nacht. Aus der Küche das Rauschen des Geschirrspülers; aus dem Badezimmer die Dusche, Wasser und ein Männerkörper, der sich langsam hin und her bewegt; die Nachbarn unten haben den Fernseher laut aufgedreht. Sie bewegt sich nicht. Ihre Schultern sind schwer, ein leichter Kopfschmerz bahnt sich an, aber sie kann sich das jetzt nicht leisten. Das Weinen sollte ich eigentlich bleiben lassen, denkt sie bitter und kaut ein wenig auf ihrer Unterlippe; auch dabei vergeht die Zeit. Trotz der hellen Straßenbeleuchtung blitzen jetzt schon drei Sterne auf der dunkelblauen Leinwand, die zerknittert vor dem Fenster hängt. Die Geräusche hüllen sie ein, verdichten sich zu einer Wolke, deren Schwere ihr Schwindel verursacht. Es kann nicht sein! meint sie, Es kann nicht sein, dass er an mich denkt! Nun, es kann sehr wohl sein, aber es darf nicht sein, er soll nicht an mich denken, ich will, dass er es tut, aber er soll es nicht, er soll es bleiben lassen! Sie kann jetzt einen Rhythmus erkennen, ein gleichmäßiges Stampfen unterhalb des ganzen Lärmes; sie sitzt noch immer reglos, beherrscht, das Gesicht der Scheibe zugewandt. Tränen? Sie doch nicht! Ihre linke Fußspitze streicht schüchtern über den Boden; der rechte Oberschenkel spannt sich an, das Knie streckt sich, wie von selbst, die Zehen beschreiben jetzt einen Kreis, in schnellem Flug, dann wieder zurück auf einer Geraden, kurz auf dem Platz verharrend, bevor der andere Fuß die Drehung aufnimmt und ihre Unterschenkel einander berühren. Die Tür hinter ihr öffnet sich einen Spalt breit, und ein überraschtes Augenpaar ruht auf ihren wirbelnden Beinen. – Ja, es könnte sein, dass sich in diesem Augenblick zwei ganz bestimmte Leben gekreuzt haben.