83 Kilometer in Berlin

Ich habe vier Tage in Berlin verbracht, es waren schöne vier Tage. Ich habe Kaffee getrunken und gut gegessen, war viel unterwegs und habe die Hitze in der Stadt genossen. Es gibt keine Highlights und keine Erlebnisse. Ich habe euch gewarnt.

Vorletztes Wochenende war ich Berlin. Es war eine spontane Entscheidung, die Stadt zu besichtigen. Mitten in der Nacht, wenige Stunden vor Abflug habe ich einen Flug gebucht und ein Hotel reserviert. Beides, so sollte sich schnell herausstellen, waren Glückstreffer. Das Hotel lag mitten im Zentrum (Nähe Alexanderplatz) und die beiden Flüge fanden zu Zeiten statt, die von den Touristen, die aus der begrenzten Zeit das Maximum herausholen wollten, gemieden wurden. Ich habe ohnehin noch nie verstanden, welchen Sinn es machte, um 4 Uhr aufzustehen, um 6 Uhr hundemüde einen Flug irgendwohin zu haben, dort dann anzukommen und sich um 20 Uhr, da bereits am Weg ins Bett darüber zu freuen, wieviel Zeit man nicht gewonnen hatte. Um 20 Uhr war ich gerademal mit einem kleinen Stadtspaziergang fertig und überlegte mir gerade, was ich in den nächsten 3-4 Stunden machen würde. Mein Flug ging um halb elf.

Hintergrundgeräusche der Schnellbahn beim Losfahren in Richtung Flughafen. (Wien, August 2018)

Ich fuhr ohne Hetze mit der Schnellbahn zum Flughafen, einzig die Sicherheitskontrolle könnte Verzögerung bedeuten. Den Check-In hatte ich bereits über die Easyjet-App erledigt und Handgepäck hatte ich keines. Die Anreise mit Rucksack war ohne Stress. Einzig die Wucht an Grundrauschen des Vormittags war mir fremd geworden. Es war aber klar, dass sehr viele Mütter mit noch viel mehr Kindern unterwegs sein würden, dass Jugendliche ihre durch Lautstärke gestützten Baltzrituale vollziehen würden, aber so war das nun mal. So funktionierte die Welt und die Schnellbahn zum Flughafen.

Ich kam überpünktlich am Flughafen an und da ich noch nicht gefrühstückt hatte, bezahlte ich 4,90 € für ein Schinken-Käse-Sandwich, was mich nur ein wenig ärgerte, und 2,90 € für eine Halbliterflasche Römerquelle, die man normalerweise um 0,80 € bekommt. Das war ärgerlich. Ich sah den Reisenden, den Urlaubern und denen, die fliegen müssen, bei ihrem Treiben zu. Da war der Lässige mit Sonnenbrille und Strohhut, der mit hochgelagerten Füßen auf einer Bank saß und gelangweilt auf seinen Abflug wartete; die Schöne, die in dreißig Minuten mehrmals ihren Lippenstift nachzog, die Haare zurechttupfte (oder wie auch immer man das nennt, wenn man mit der offenen Hand von unten nach oben auf die Mähne, ja, „tupft“); ein paar, die in ihren Computern versanken und denen nicht so ganz bewusst war, wozu sie eigentlich unterwegs waren, wenn doch alles, was sie wollten, in ihre Dreizehnzöller passte; und natürlich diejenigen, die telefonierten, dass man mithören und nach einiger Zeit auch antworten konnte. Kurzum: Es war das übliche Treiben am Flughafen, wie man es kannte und wie es wohl überall auf der Welt gleich war. Menschen, die warteten. In allen Formen.

Hintergrundgeräusche im Amrit (Berlin, August 2018)

Auch an der Sicherheitskontrolle fand das übliche Trauerspiel statt. Es gab ein Labyrinth, das man durchqueren musste. Gelegentlich führten die Gänge so nah am Security-Check vorbei, dass man verlockt war, die Absperrung einfach zu durchdringen. Es wäre ja auch so einfach: Einmal bücken, unter dem gespannten Seil durch, und schon wäre man dran. Ein paar Schlaue machten das auch so, die Aufsicht bekam es nicht mit und die anderen Wartenden akzeptieren die Schummelei wortlos. Was würden diese Menschen an Zeit gewinnen? Zehn Minuten, die sie länger in den unattraktiven Abflughallen warten dürften? Ja, wenn sie meinen. Es gibt ja auch Leute, die in der Dreißigerzone im siebten Bezirk überholen.

Insgesamt verbrachte ich keine Viertelstunde in der Warteschlange. Ich legte mein Handgepäck, das Handy, die Schlüssel und den Gürtel aufs Band, passierte die Metalldetektoren, holte am anderen Ende meinen Rucksack ab und schlenderte zu meinem Gate. Dort erklärte das Easyjet-Personal in einer Dauerschleife, dass nur ein einziges Stück Handgepäck am Flug erlaubt war und dass auch Handtaschen als Handgepäck zählten; würde man einen Trolley und eine Handtasche haben, so müsste man die Handtasche in den Trolley packen, um den Abflug nicht zu verzögern. Die werte Leserschaft kann sich bestimmt schon denken, was zu einer, wenn auch kurzen, Verzögerung geführt hat? Ja, richtig: Trolleys und Handtaschen. Aber wieso? Das kann doch nicht sein? Bla, bla, bitte nimm deine dämliche Handtasche und stopf sie in den Trolley! Danke. Können wir nun weitermachen?!

Jiaozi (Teigtaschen) in Lon Men’s Noodle House (Berlin, August 2018)

Im Flugzeug bat mich eine junge Frau, mit ihr den Platz zu wechseln. Ihr Freund würde den Platz genau neben mir haben – ich blickte hinüber, er nickte und sah mich hoffnungsvoll an – ich stimmte dem Platzwechsel zu. Mein neuer Platz war nicht mehr am Ende, sondern in der Mitte des Flugzeugs, ich war eine Pufferzone zwischen einer Mutter und ihren beiden Kindern, sowie den beiden, etwas muffelnden Großeltern. Die Alten saßen rechts von mir, und links, auf der anderen Seite des Gangs, saßen die Jungen. Es war ja wohl klar, dass die Alten Fotos von den Jungen machen würden und ich mich den ganzen Flug über in den Sessel pressen durfte, damit ich nicht auf jedem einzelnen der gefühlt hundert Fotos, die die Alten gemacht haben, drauf sein würde. Danke, das ist sehr nett von ihnen, wirklich! Okay, noch eines? Ja, bitte!

Der Flug verlief ohne jegliche Komplikationen. In Berlin angekommen, fuhr ich mit dem Bus zur U-Bahn und mit der U-Bahn zum Hotel. Berlin ist eine schöne Stadt, ich komme gern hier her.

Hare Krishna, irgendwo in Berlin im August 2018

Ich hatte nichts vor. Ja, wirklich, wenn ich mich im Hotel einfach nur ins Bett gelegt und geschlafen hätte, wäre das, was ich tun wollte, erfüllt gewesen: Keine besonderen Vorhaben in Berlin. Ich wollte vom Stress der vergangenen Wochen ein wenig wegkommen, habe auf das Notebook verzichtet und mir auch keinen Plan gemacht, was ich besichtigen wollte. „In der Gegend herumschlendern“ war angesagt, spazieren ohne Ziel, die Stadt aufsaugen, in ihr leben, genießen, was sie war und was sie bot. Klingt das zu schnulzig? Ja, ich weiß.

Als ich das letzte Mal in Berlin war, und das ist Jahre her, war es kalt. Es war, obwohl es bereits Mai war, so kalt, dass ich die Stadt nicht wirklich erleben konnte, sondern, wie auch vor Jahren in New York, nur von einem zum nächsten Coffeeshop hetzte. Das war ein kein Urlaub und kein Vergnügen, sondern das Abarbeiten einer Checkliste. Das konnte ich auf Google Maps genauso tun, dafür musste ich nicht nach Berlin kommen. Schon damals nahm ich mir vor, die Stadt bald wieder zu besuchen, aber unbedingt im Sommer!

Salsa-Night im MountMitte (Berlin, August 2018)

Das Leben spielt sich hier auf der Straße ab, die Geschäfte, Lokale und Restaurants machen sich die teilweise wirklich breiten Gehsteige der Stadt zunutze und mir ist nicht ein Laden untergekommen, bei dem ich mich nicht auch im Freien hätte hinsetzen und einen Kaffee trinken können. Ich habe dieses Eintauchen in eine Atmosphäre, in die man bei Lokalen, die über keine Gastgärten verfügen, gezwungen wird, noch nie gemocht. Das Sitzen im Freien, am besten noch, auf der Straße, macht den Besuch interessant, denn hier prallen Welten aufeinander: Die der Straße und die des Lokals, und genau dazwischen, wo sich beide freundlich präsentieren, ist der vorgelagerte Gastgarten. Welcher Platz wäre besser, um beobachten zu können, während man eigentlich mitten im Verkehrsstrom dem gewollten Stillstand fröhnt? Ich mag das. Und Berlin protzt damit an jeder Ecke. (In Wien wären solche Gastgärten gar nicht möglich; unsere Gehsteige sind deutlich schmäler als die in Berlin.)

Natürlich würde ich, wenn schon in Berlin, die Röstereien und Coffeeshops besuchen. The Barn, Bonanza, Five Elephant… die Stadt ist ja mittlerweile für ihre Kaffeekultur bekannt und dahingehend auch ein Hotspot geworden. Was für ein Glück, dass mein Hotel in Gehweite aller eben genannten Röstereien und Coffeeshops war! In der Früh zu The Barn, wo man meine Leidenschaft für fruchtige Kaffees geschätzt und mir fantastische Espressi serviert hat (und ich endlich den Poller gegen Kinderwägen fotografieren konnte), zu Mittag Cheesecake und Kaffee bei Five Elephant und am Nachmittag einen Doppio bei Bonanza. Und überall kostet der doppelte Espresso nicht mehr als 2,50 € (und selbst der Preis, wie ich bei Bonanza erfahren habe, wird von den Gästen als hoch empfunden). – Was will man mehr?! In Wien kostet der Doppio nirgendwo weniger als 3 €.

Tango. Berlin, Alexanderplatz im August 2018

Ich habe mir die für Touristen üblichen Gegenden in Berlin angesehen und war langsam, nämlich zu Fuß, unterwegs. Insgesamt habe ich – Apple Watch und iPhone sei für die genaue Aufzeichnung Dank – etwas über 83 Kilometer von Donnerstag bis Sonntag in der Stadt zurückgelegt, wobei die längste Strecke am Stück sicherlich die vom Nachmittagskaffee bei Bonanza Roasters in der Oderberger Straße 35 über den Alexanderplatz und durch den Tiergarten bis zu Lon Men’s Noodle House in der Kantstraße 33 war, wo es die besten Jiaozi, die ich seit langem gegessen habe, gab. Das waren, Hin- und Rückweg, knapp 20 Kilometer.

Wir sind nun im vorletzten Absatz dieses Beitrags und es gab noch immer keinen wirklichen Höhepunkt einer Reisegeschichte. Den wird es auch nicht geben, denn, wie ich eingangs erwähnt habe, dieser Kürzesturlaub hatte genau den Sinn, keinen Höhepunkt zu haben. Ich wollte spazieren, essen und trinken und wenn es etwas zu sehen gab, dann auch was sehen. Ich wurde überrascht von der Freundlichkeit der Stadt und was ich vor Jahren schon gefühlt habe, bestätigte sich nun endgültig. Berlin ist, ich ergänze nun: vor allem im Sommer, eine Reise wert. Frühstücken, Kaffeetrinken, Essen, Spazieren, Abkühlen im Tiergarten… es war schön.

Am Sonntag war ich zwei Stunden vor Abflug am Flughafen und sah, dass ein Flieger in einer halben Stunde nach Wien ging. Ich fragte am Schalter nach, ob ich mein Ticket spontan umbuchen konnte und das Flugzeug, das jetzt gleich abfliegen würde, nehmen könnte. Ja. Und ja. Und ich war am späten Nachmittag wieder in Wien, fuhr mit der Schnellbahn zurück in die Stadt, nahm ein entspanntes Abendessen bei Tulsi ein und legte mich, froh über ein paar Tage des Nichtstuns, ruhig und zufrieden ins Bett. Es war eine gute Nacht.