Judith Butler über die Notwendigkeit einer Fiktion für die Demokratie

Judith Butler über die unabdingbare Notwendigkeit einer Imagination, die Demokratie ermöglicht, begründet und befeuert. Und darüber, was damit einhergeht.

Wenn dein Tag mit einem schon lange offenen Tab in Arc beginnt und du während der zweiten Tasse Kaffee Judith Butlers Ausführungen über den Zusammenhang und die Notwendigkeit von Fiktion für das Funktionieren von Demokratie liest.

Ausgehend von einem deprimierenden ersten Absatz, in dem Judith Butler die Hoffnungslosigkeit und die Vorstellung (vornehmlich unter jungen Menschen) einer nicht vorhandenen oder zumindest nicht sehr rosigen Zukunft aufgreift, schließt sie den Gedanken zur Imagination, zur Notwendigkeit einer Fiktion für das Funktionieren von Demokratie, gleich in den nächsten Absätzen.

When we say […] that we are imagining the end of the world, or the end of the world as we have known it, we are imagining the end to imagination itself. That is surely something difficult, if not impossible for the imagination to do. […] And so, we find that what we imagine is framed and formed in ways that support one kind of interpretation of what will happen over another. […] All this happens not only inside the mind, but in the modalities and objects through which fearing and imagining take place: specific sensuous modes of presentation, specific media. These are not simply vehicles for preformed thought, but formative powers in themselves.

Judith Butler

Okay, okay, okay, Judith, etwas langsamer! Ich wiederhole: Demokratie basiert auf einer Vorstellung, die über die aktuellen Gegebenheiten, die momentan mehr düster denn rosig sind, hinaus gehen. Diese Vorstellung beinhaltet nicht nur ein „Ende der Welt“, sondern auch ihre Fortsetzung nach diesem Ende. Geht diese Vorstellung verloren, geht auch Demokratie verloren, weil die Vorstellung über eine Zukunft ein essentieller und integraler (!) Bestandteil von Demokratie ist. Klar, macht ja auch Sinn: Ohne Vorstellung darüber, wie etwas sein könnte, kann ich niemandem meine Stimme geben oder mich selbst unmittelbarer an der Entscheidungsfindung und Gestaltung einer Gesellschaft beteiligen, die ich erreichen möchte. Das macht es natürlich notwendig, über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus zu denken. Wie sonst würden Reformen, Änderungen, Anpassungen, schlichtweg alle Aspekte demokratischen Entscheidens funktionieren, wenn nicht über die Brücke der Vorstellungskraft und das andere Ufer, das wir, beschreiten wir sie, erreichen könnten?

Es wäre nicht Judith Butler, gäbe es da nicht diesen einen, entscheidenden Punkt, der nun die unbedingte Annahme einer Fiktion und die nicht zu leugnende Realität unter einen Hut bringt bzw. auf die zwischen den beiden herrschenden Verbindungen verweist, ja, sie sogar als notwendig aufzeigt. Diese Verbindung verbirgt sich im unauffälligen Wort „wir“, den Menschen, also, und der historischen und konzeptionellen Verortung dieser Menschen; dieser vielen – das gleich vorweg – „Wirs“.

Wie kommt also das „Wir“ in „Demokratie“? Hier gilt es, auf die zeitliche Abfolge zu achten, die eine konkrete Vorstellung einer Idee über die Gemeinschaft, also, dem rechtlichen und politischen Rahmen vorsetzt, ihn somit begründet. Oder, umgekehrt: Ohne Vorstellung des Rahmens, der Grundlagen des Zusammenlebens oder konkreter Aktionen, gibt es keine Politik. Denn wo sollte diese Politik Gültigkeit erlangen, wenn nicht in einem (imaginierten) wir, das sich zu dieser Politik bekennt? Somit gilt: Ist die Vorstellung eine Zusammensetzung aus den Willen (Plural!) vieler, wenn nicht sogar zwangsweise aller, die sich irgendwie zusammengehörig fühlen, dann, nur dann ist es Demokratie.

Democracy is that form of rule that is by and for the people. It is the people who come together and decide how best to live with one another, who make the laws under which they agree to live, and who seek, through debate, to produce an abiding understanding of what it means to live together[.] There are […] various freedoms exercised under conditions of democratic self-rule. People are free to assemble and to move, to express their views, and to affiliate with political groups. […] They are invariably diverse—but under fascist political conditions […] that multiplicity is denied. Forms of subjugation and exclusion are developed to narrow the scope and multiplicity of the people. […] “The people” do not just exist as constituted groups, since they are the basis of the constitution of democratic polity itself. In democracies, the people establish the laws by which they are governed. If so, they appear to exist and to be forming laws prior to being governed or defined by those laws. […] The people, it is said, who come together to found a state, or to ask for legal access to the state, and, in this sense, they are separate from and “before” the law, either temporally prior or spatially before. If so, the people who make the law, the demos from which democratic orders emerge, are thus lawless at the moment that they first make the law.

Judith Butler

Ach Judith, geht’s bitte ein Mal auch weniger kompliziert?! Aber gut, die Message ist zu wichtig und zu relevant in diesen Tagen. Vor allem das hier, das dem oben zitierten Abschnitt unmittelbar folgt.

If political self-determination is a power that belongs only to one group and is not equally shared, then not democracy, but oligarchy or apartheid result. Democracy makes sense only if all the people participate equally in the collective democratic right of self-determination […] The exercise of collective freedom remains legitimate if, and only if, it is equally shared. [It] is posited that is outside and before the law, characterized both by its indetermination and radical universality. That freedom is in its most initial or fundamental forms not governed by law. It makes law and so determines itself as law […] This unlocatable and an-archic founding of law cannot be rightly identified in place and time without losing its transposability, its potential for universalization.

Judith Butler

What? Lese ich da etwa, dass Demokratie sich nur dann wahrhaftig Demokratie nennen kann, wenn es eine grundlegende Freiheit gibt, die außerhalb jeglichen rechtlichen Rahmens liegt, gleichzeitig aber universelle Gültigkeit haben muss, da sie eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren von Demokratie ist? Und weil es diese rechtlich (räumlich und zeitlich!) nicht fassbare Freiheit gibt, ist sie grundsätzlich universell, steht damit also jedem und jeder ohne irgendwelche Voraussetzungen erfüllen zu müssen zu. Wäre sie nicht universell, wäre sie also an Voraussetzungen verknüpft, wäre sie per definitionem nicht die genannte Freiheit. Und fehlte sie, wäre das System, in dem wir leben, keine Demokratie.

In anderen Worten: Um Demokratie überhaupt leben zu können, ist ein Bereich außerhalb der Demokratie (im Sinne eines rechtlich regulierten und politisch erfassten Bereichs) nicht nur notwendig, sondern unabdingbar. Da dieser Bereich nicht existiert, demnach darin auch kein definiertes Volk („the people“) existiert, gilt es mit radikaler Universalität. Und dieser Bereich ist die fürs Funktionieren und fürs Verständnis von Demokratie notwendige Fiktion.

The beginning of democracy requires a transport into a necessary fiction. […] The question of legitimacy […] relies upon a kind of imagining. And if we are to imagine otherwise, that is, think of new ways in which polities might form that would more fully realize the ideals of democracy, we require the imagination. Transformation, dissent, and revolution are impossible without collective imagining. And democracy requires precisely this: a form of collective assembly in impossible time and space.

Judith Butler

Spot on!

Im letzten Teil ihres Artikels diskutiert Judith Butler übrigens Franz Kafkas „Zur Frage der Gesetze“. In Kafkas Text wird eine Gruppe von Menschen beschrieben, die zwar unter vorgegebenen Gesetzen lebt, aber keinen Zugriff auf sie hat; dieser ist dem Adel vorbehalten. Auf dieses Messers Schneide lebt diese Gruppe von Menschen also; eines Messers, das die kontinuierliche Gefahr darstellt, zur ureigensten Gefahr zu werden. Das Messer ist sinnbildlich

a place of perpetual risk and threat […] a place which is no place, […] perpetually exposed to a potential shredding or decimation and an imagining that will take courage and doubtless seems at first terrifying and absurd.

Judith Butler

Judith Butler schließt mit einem Beispiel, das mir so oder so ähnlich gar nicht unbekannt vorkommt. Die Regeln (und deren Schaffung, Veränderung, Abschaffung) denen vorenthalten, die von den Regeln betroffen sind. Meine Güte, das kennen wir doch!

Consider […] that our […] leadership […] tells us that it is obligated to quell democratic rights to debate for reasons […] that sadly cannot be shared and that it cannot rescind its act of censorship because laws exist that forbid such a reversal, even if justified. And yet we are not given those laws; they are not posted, withheld and simply asserted. […] Thus, those deprived of knowledge of the deliberation, of evidence, even of the transparency of the law are now “the people” […] as those who live without knowledge of the laws that deprive them of freedom and knowledge at once. We have immediate reason, then, to ask how the parable informs democracy, and how democracy depends on parables such as these.

Judith Butler

Eine schöne, nein, notwendige Tour d’Horizon, auch und vor allem zu den Grundlagen der Dinge, die wir als selbstverständlich ansehen, während wir mit unserem Verhalten an der Voraussetzung dieser Dinge sägen, ohne dass uns das selbst überhaupt bewusst ist.

Judith Butlers Artikel „To Imagein a World After This, Democracy Needs the Humanities“ ist im Frühjahr 2025 im Literary Hub erschienen und frei zugänglich.

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