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Vor knapp zweihundert Jahren konnte man ja nicht ahnen, dass eines Tages Ehen rechtmäßig geschieden oder Homosexuelle in (ehelichen) Partnerschaften leben würden. Bildnerische Kunst, die abstrahiert wird, Musik, die frei interpretiert wird und sich an keine Schule mehr hält, Literatur, die an keinerlei Konventionen mehr gebunden ist; all das war unvorstellbar und doch haben wir diese Entwicklungen bis zum heutigen Tag mit- und durchgemacht. Es gibt allerdings Bereiche unseres Lebens, die sich scheinbar — unberührt von jeglichem Fortschritt — nicht verändert haben. In Fragen der Ästhetik, der Moral, familiärer Ideale oder partnerschaftlicher Zugehörigkeiten sind wir am Stand des frühen 19. Jahrhunderts. Während Zukunftsforscher über potentielle Machtkämpfe dieser und jener Akteure Weissagungen treffen, sich abzeichnende Konflikte und neue Technologien vorauseilend analysieren und deren Einfluss auf unsere Gesellschaftsstrukturen kundtun, schweigen sie sich über Neuformulierungen und Änderungen unserer moralischen und ästhetischen Vorstellungen aus. Die scheinen, so wirkt es zumindest, sich auch in nähester Zukunft nicht zu ändern, oder hat die werte Leserschaft schon irgendwo über neue Konzeptionen der moralischen Begriffe Gut und Böse, akzeptabel und inakzeptabel, Schönheit und Hässlichkeit gelesen oder gehört? Nein! Doch genau diese Vorstellungen werden sich ändern.
Monogamie als gesellschaftliche Konvention
Die Monogamie, in ihrer momentanen Definitionsform letztlich nur eine ziemlich gut zur Operationalisierung anwendbare soziale Konvention, wird in ihrer jetzigen Form nicht überleben. Sehen wir in die Geschichte und in die Gegenwart, dann stellt sich uns sehr rasch die Frage, ob Monogamie eigentlich jemals tatsächlich gelebt wurde. Sie wurde nicht gelebt, niemals und zu keiner Zeit durchgängig, und bald schon wird sie auch als Ideal verschwinden. Auch wenn es ein Teil unseres gedanklichen Kolosses nicht erlaubt, polygamisch zu leben, hat ein anderer Teil damit keine Probleme. Der Wert der Monogamie ist also ein rein fiktiver, sogar in seiner Metaebene.
Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft zur Polygamie zurückkehren wird. Stattdessen werden wir uns wiederfinden in einer völlig neuen Konzeption von sentimentalen und Liebesbeziehungen (Plural!), denn nichts verbietet einer Person mehrere Personen gleichzeitig zu lieben. Die Beibehaltung einer solchen, einer monogamischen Lebensweise wird heutzutage hauptsächlich aus ökonomischen Gründen forciert, denn nur so funktioniert der Warenverkehr auf einer kleinen Einheit aufbauend (und nicht auf einer Unzahl an Individuen); des weiteren schützt natürlich eine monogamische Lebensweise vor allem Frauen vor männlichen Exzessen.
Medien schaffen neue Wirklichkeiten
Doch dieses Begründungsmuster zum Aufrechterhalt einer überkommenen und niemals gelebten Beziehungsform verschwindet. Durch die sich rasend schnell und uns mit Unmengen an Informationen versorgenden Massenmedien, sowie das Aufkommen seelisch-exhibitionistischer Websites, werden wir mit einem Menschheitsbild konfrontiert, das alles andere ist als monogam. In unzähligen Blogs kann man über diverse Liebesbeziehungen der Autoren und Autorinnen zu verschiedenen Personen lesen, in nahezu allen Fernsehsendungen ist dasselbe Thema anzufinden. Die Ideale der Demokratie und des freien Marktes beginnen sich als Leitmotive allmählich auch auf unser Denken und unser Leben auszuwirken. Unser Leben? Wir sind konfrontiert mit einer neuen Realität, die uns mehrere Leben zuteil werden lässt, mehrere Identitäten und eben auch mehrere Partner; die offensichtliche Scheinheiligkeit eines streng monogamen Daseins wird aufgedeckt. Ein andauernd steigender Level individueller Freiheiten wird Veränderungen in Vorstellungen unserer Sexualmoral hervorrufen, wie auch Veränderungen in sämtlichen anderen Gebieten: Wirtschaft, Religion, Alter, Jugend, Wahlrecht, alle!
Biologie schafft neue Wirklichkeiten
Hinzu kommt noch, dass die im Gegensatz zu früher auch stark erhöhte Lebenserwartung es nahezu schon fast unmöglich macht, sein Leben mit nur einem einzigen Partner, den man liebt, zu verbringen. Neue Technologien, die den natürlichen Zusammenhang von Liebe, Sexualität und Fortpflanzung entkoppeln bedingen eine Auseinandersetzung mit diesen drei Teilbereichen als voneinander getrennt. Praktisch gesehen, hat das Aufkommen von Verhütungsmitteln schon einmal dazu geführt, dass sich einer der Hauptgründe gegen mehrere Partner – das Kind – in Luft aufgelöst hat.
Genaugenommen ist die Definition von Monogamie gar nicht so streng, da sie zwar die Gleichzeitigkeit mehrerer Beziehungen verbietet, nicht aber das Aufeinanderfolgen derselben. Warum sollten also Gesellschaften, die heute bereits aufeinanderfolgende (Liebes-) Beziehungen akzeptieren, nicht bald auch in rechtlichen wie auch moralischen Belangen gleichzeitige Liebesbeziehungen tolerieren und in weitere Folge akzeptieren? Sowohl für Männer als auch für Frauen wird es ohne Einschränkungen möglich werden, Beziehungen mit mehreren Menschen zu haben, die wiederum ebenso mehrere Partnerschaften haben werden. Im Endeffekt werden wir erkennen, dass es im Wesen der Sache menschlich ist, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben.
Probleme
Der Niedergang und die Auflösung eines moralisch-rechtlichen Konstrukts wie der Monogamie wird naturgemäß nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten gehen. Besonders die Religionen (oder deren Kirchen) werden versuchen, den Untergang eines mühsam aufgebauten Idealtypus zu verbieten, vor allem werden sie es Frauen verbieten und mit dem Argument der Fortpflanzung und der Vater-/Mutterschaft aufwarten. Sie werden sich mit dieser Begründung nicht lange halten können, wenn auch die Entwicklung lange hinauszögern. Doch auf lange Sicht, werden auch sie nicht viel bewirken können und die individuelle Freiheit wird am Ende ihren Triumph feiern.
Europa wird voranschreiten, Amerika folgen und vielleicht danach der Rest der Welt, irgendwann. Die Auswirkungen eines solchen Wandels werden gewaltig sein, ähnlich eines gesellschaftlichen Revolution. Beziehungen, aus denen Kinder hervorgehen, müssen radikal umgedacht und neu konzeptioniert werden, finanzielle Arrangemenst, wie sie bislang gegolten haben, müssen neu formuliert und überdacht werden; auch unsere Lebensweise und der Ort, an dem wir leben, wird sich dadurch ändern.
Der Weg weg von der Monogamie ist bereits vor zweihundert Jahren eingeschlagen worden, doch wird es noch lange dauern, bis wir am Ziel angelangt sind. Hinter der fadenscheinigen Moralkompetenz von Filmen, Romanen und Musikstücken ist die Silhouette unserer Zukunft aber schon zu sehen.
Dies ist eine Übersetzung und Erweiterung des Artikels Monogamy. Here Today, Gone Tomorrow von Jacques Attali.