Mutter pfeift auf die Privatsphäre der Tochter

Ein Mädchen findet heraus, dass ihre Mutter seit Jahren eine Kolumne zum Thema Mutterschaft betreibt und darin Persönliches über sie bloggt. Sie bittet die Mutter, die alten Bilder und Posts zu löschen und keine neuen mehr hochzuladen. Anstatt dem Wunsch der Tochter nach Privatsphäre zu folgen, schreibt die Mutter über das Gespräch mit ihr und verlinkt in eben diesem Artikel auf einen der für die Tochter schmerzlichsten Momente.

Zeynep Tufekci hat den Artikel, der nicht auf einem privaten Blog oder in einem Forum, sondern in der Washington Post (!) veröffentlicht wurde, aufgegriffen und erbricht sich (in einem Twitter-Thread) über die Verantwortungslosigkeit und Ignoranz der Mutter sowie über das Versagen der Endredaktion bei der Washington Post. Zurecht, denn dieser und die darin verlinkten Artikel sind, wie Zeynep Tufekci es formuliert, „celebrating exploiting children“.


Abgesehen vom Irrsinn an sich, eröffnet die Mutter in diesem Artikel einen völlig nichtigen Argumentationsstrang, der im ersten Moment logisch und als valide Kritik an den Umständen, in denen sich die oben beschriebene Situation abspielt, erscheint, auf den zweiten Blick aber als Schutzargument für ihre eigentliche Motivation, auf Kosten der Tochter weiter zu tun, herhalten muss. (Unter „Schutzargument“ verstehe ich einen vorgeschobenen Grund, der das eigene Interesse verstecken soll, um es vor Kritik zu schützen.) Konkretes verändert halt doch, wie so oft, Abstraktes. Und konkret geht es um folgendes „Argument“:

I prefer the hard work of charting the middle course to giving up [writing about motherhood] altogether — an impulse that comes, in part, from the cultural pressure for mothers to be endlessly self-sacrificing on behalf of their children. As a mother, I’m not supposed to do anything that upsets my children or that makes them uncomfortable, certainly not for something as culturally devalued as my own creative labor. […] My daughter didn’t ask to have a writer for a mother, but that’s who I am. Amputating parts of my experience feels as abusive to our relationship as writing about her without any consideration for her feelings and privacy.

Christie Tate, My daughter asked me to stop writing about motherhood. Here’s why I can’t do that.

Bla bla bla. Hier geht es nicht um irgendwelche Opfer, die eine Frau gegenüber ihrem Kind bringen muss, sondern darum, dass ein Mensch einen anderen Menschen bittet, etwas zu unterlassen, das ihn in seiner Privatsphäre verletzt; und das wird ignoriert. Es geht darum, dass ein Mensch von einem anderen Menschen ausgenützt und als Mittel benutzt wird, sich selbst profilieren zu können. Das „Mutter, gib dein Leben auf“-Argument hat hier nichts verloren, denn der Wunsch der Tochter erwächst zwar unter der Bedingung, nicht aber aufgrund der Mutter-Tochter-Beziehung: er ist auch außerhalb dieser Beziehung legitim und verallgemeinerbar. Die Antwort der Mutter (der oben zitierte Absatz) ignoriert diese Legitimität allerdings und verkehrt die Argumentationsverhältnisse: Sie will den Wunsch ihrer Tochter um jeden Preis als der Mutter-Tochter-Beziehung entwachsen und eben nicht als zu respektierenden Wunsch eines eigenständigen Individuums sehen.

Andersrum: Würde die Mutter nicht über ihre Tochter, sondern über ihre Arbeitskollegen berichten und die würden sich darüber beschweren und sie bitten, es zu unterlassen – ich denke nicht, dass sie in diesem Kräfteverhältnis mit so einem Statement davonkommen würde. Der vorletzte Absatz ihres Artikels zeigt eindeutig, wer den Rahmen setzt, in dem sich mögliche „Kompromisse“ ereignen dürfen, auch wenn die Grenzbereiche dieses Rahmens bereits außerhalb des Kernmoments der Diskussion liegen. Der Absatz spiegelt die Kräfteverhältnisse in dieser Mutter-Tochter-Konstellation eindeutig wider und macht deutlich, dass die Mutter auf die Privatsphäre ihrer Tochter pfeift:

For now, we have agreed that I will not submit a picture for a publication without her permission and that she has absolute veto rights on any image of herself. As for content, I have agreed to describe to her what I’m writing about, in advance of publication, and to keep the facts that involve her to a minimum. I have not yet promised that she can edit my work, but we acknowledged that is a future possibility. She also requested that instead of using her name, I call her by her self-selected pseudonym, Roshelle, and I’m taking that under advisement.

I’m taking that under advisement. Ich bin gespannt, wie diese Beziehung in 10 Jahren aussehen wird.