George Packer hatte vor, ein Review zu Dorian Lynskeys „Ministry of Truth: The Biography of George Orwell’s 1984“ zu schreiben, ich habe seinen Artikel aber als kritische Sammlung an Querverweisen zu dem Irrsinn, der sich gegenwärtig abspielt, gelesen. Naturgemäß beginnt der Artikel mit dem üblichen Verweis auf Orwell/Huxley und dem Problem von zu viel Information aus zu vielen Kanälen.
We are living with a new kind of regime that didn’t exist in Orwell’s time. It combines hard nationalism—the diversion of frustration and cynicism into xenophobia and hatred—with soft distraction and confusion: a blend of Orwell and Huxley, cruelty and entertainment. […] Totalitarian propaganda unifies control over all information, until reality is what the Party says it is […] Today the problem is too much information from too many sources, with a resulting plague of fragmentation and division—not excessive authority but its disappearance, which leaves ordinary people to work out the facts for themselves, at the mercy of their own prejudices and delusions.
George Packer, „Doublethink is stronger than Orwell imagined„
Viel spannender wird es aber, wenn Packer progressives Doppeldenk („progressive doublethink“) in den eigenen Reihen feststellt. Doppeldenk unter gebildeten, aufgeklärten und progressiv denkenden Menschen sieht er als noch viel heimtückischer an als jenes im rechten Spektrum, da sich die zentrale Forderung progressiven Denkens – die Forderung nach Gerechtigkeit, nämlich – heutzutage als unmöglich erweist, wenn sie gewisse Widersprüchlichkeiten nicht akzeptiert. Damit wird aber die Akzeptanz von Widerspruch zur Voraussetzung des Denkens – ein schmerzhafter Volltreffer in Bezug auf die Definition von Doppeldenk. Packer nennt Twitter als Beispiel, wenn es um den Grad an Selbstzensur und die Übernahme von Denkfiguren geht, die jede Aktion einer Denkpolizei in den Schatten stellen würde.
Orthodoxy is […] enforced by social pressure, nowhere more intensely than on Twitter, where the specter of being shamed or “canceled” produces conformity as much as the prospect of adding to your tribe of followers does. This pressure can be more powerful than a party or state, because it speaks in the name of the people and in the language of moral outrage, against which there is, in a way, no defense. Certain commissars with large followings patrol the precincts of social media and punish thought criminals, but most progressives assent without difficulty to the stifling consensus of the moment and the intolerance it breeds—not out of fear, but because they want to be counted on the side of justice.
Sicherlich kann man in genau diesen Fällen von Filterblasen, von Eigenverantwortung, von der Möglichkeit, die Filterblase zu verlassen und einer bewussten Entscheidung für diese Art der Argumentation sprechen (die Begriffe sind ja allesamt Marker, die den Verfasser oder die Verfasserin eines Tweets letztlich ja doch noch in Beziehung zur Wirklichkeit setzen), aber selbst diese Herausforderung – immerhin wird sie ja nicht von einer technischen Argumentation untermauert, sondern erst durch das Infragestellen der vorgebrachten Argumente ausgelöst – ist problematisch. Die Schlinge wird enger, wenn man einen Schritt weitergeht und überlegt, was eine Person motiviert, vorgebrachte Argumente und ihre spezifische Interpretation infrage zu stellen; ist das nicht erst recht Doppeldenk vom Feinsten? (Ich darf hier an Slavoj Žižeks How to Watch the News zum Thema „Fake News“ erinnern. Das Infragestellen des Infragestellens ist dort eines der zentralen Argumente.)
Einig – und das ist einer der Schlusspunkte in Packers Review – können wir uns aber in einem Punkt sein. Es klingt wie eine Binsenweisheit, ist aber doch so dermaßen starken Angriffen ausgesetzt, dass eine Erwähnung sicherlich nicht schadet:
This willing constriction of intellectual freedom will do lasting damage. It corrupts the ability to think clearly, and it undermines both culture and progress. Good art doesn’t come from wokeness, and social problems starved of debate can’t find real solutions.
Was das Gesagte nicht hinterfragt, ist foolish thought.