Sonntagsarabesken #121

Echo einer verlorenen Welt: Worte des hinter dichten Dunstschleiern verschwundenen Jahres, die durch den Zauber damals noch nicht zu ahnender Liebe viel an Gewicht verloren haben. Das Frühlingslicht kehrt wieder und wieder; es schwindet, löst sich auf in der gierigen Hitze des Sommers, lebt weiter unter dem golden schimmernden Rost des Herbstes, zittert sich durch den Winter, um im folgenden Jahr von Neuem seine augenzwinkernde Gutmütigkeit an die Menschheit zu verschwenden. Es bleibt nichts weiter als ein kurzer Reflex auf der Oberfläche von blauen Adern durchzogenen Marmors. Eine faltige Hand, deren Knochenfinger langsam den Takt auf roten Samt klopfen; der nach vorne geneigte Hals, sich aus dem Schatten schälend, der wie eine leere Höhlung zwischen Decke und Sitzen der Opernloge klafft, nur ein dünner Muskelstrang, gelblich beleuchtet, hält den Schädel an der Wirbelsäule, und doch ist diese Gestalt, eingehüllt in einen anthrazitfarbenen, weit gewordenen Anzug, geladen mit einer unheimlichen Energie, die dem reißenden Biß des Lebens trotzen will. Es wird nichts nützen, sagt jetzt der müde gewordene Beobachter aus dem Abstand zweier Jahre, murmelt es als fatalistische Prise in eine untergründig bohrende Trauer hinein, den Teig der Vergangenheit mit der Essenz augenblicklich vergehender Zeit verrührend. Er fehlt. Fehlt nicht nur mir, sondern fehlt dem großen Ganzen, der Gesamtheit, die meine Welt gewesen ist, herausgefallen aus dem geschlossenen Märchenbuch meiner Kindheit, dessen Papierfiguren weder Charakter noch Gestalt jemals zu ändern brauchten, denn eindeutig und ewig waren ihre Rollen verteilt. Staub steigt wie Silberpulver aus dem Polster des Klavierhockers, auf dem seit Jahren niemand mehr gesessen ist. Keine Füße auf dem Parkett, das zwischen den Türen abgetreten ist und bei der leichtesten Berührung knarren würde; keine Blumen in den Vasen aus blauem Muranoglas, keine Hände, die das Fenster zum Garten öffnen und die Loggiatür schließen, um den Luftzug zu vermeiden, den gebeugt zwischen Papierstapeln in der Bibliothek Sitzenden nicht zu stören. Sie waren bis zuletzt zusammen. Und sind es jetzt wieder. Ich schlage das Buch auf, langsam, die abgestandene Luft gelebter Zeit atmend, tief in meine Lungen ziehend. Die erste Seite fehlt. Verschwunden wie der Text, den sie getragen hatte. Und während sich die Wände der nach Marillenkuchen duftenden Wohnung in transparentes Glas verwandeln, in der Winterluft zerfließend, verwandelt sich das Papier unter meinen zögernd blätternden Fingern zu Staub. Der Vorhang fällt, zu einem letzten stummen Crescendo des Orchesters. Das Licht in der Opernloge verlischt. Die Geschichte ist zu Ende.