Sonntagsarabesken #144

Sie rief ihn an, sobald sie aus dem Flugzeug gestiegen war. Es läutete. Einmal. Zweimal. Dann hob er ab. Ihr Magen verkrampfte sich, als der erste Ton seiner dunklen Stimme ihr Ohr traf. Den ganzen Flug über hatte sie sich diesen Moment ausgemalt. Nein, eigentlich schon seit mehr als einer Woche. Beim Warten auf ein Taxi in der schwülen Abendhitze auf einer dicht befahrenen Straße in Havanna. Auf der Terrasse, das Cocktailglas in der Hand, die angenehme Kälte der Eiswürfel auf ihren Fingerkuppen genießend. Im stickigen feuchten Dickicht des Bergwaldes, während sie versuchte, nicht vom Weg abzukommen. Ihre Gedanken hatten sich verirrt, in eine entfernte Zeit, die ihr doch plötzlich wieder so nahe schien. Sie fühlte die Kühle des Marmorblockes unter ihren Schenkeln, nur einen Herzschlag, nur einen Kuß entfernt von ihm, seinem entspannten Körper, der leicht nach einem ganz bestimmten Parfum duftete. Im Hotel, später, versuchte sie vergeblich, diesen Geruch wiederzufinden, sogar noch, als sie mit ihrem Freund nach dem Essen auf dem Balkon einen letzten Drink nahm, sogar noch, als sie in seinen Armen lag, seinen Atem an ihrem Hals spürte und unter der zarten Vehemenz seiner Bewegungen die Augen schloß. Die Tatsache, dass sie den Duft dieses Abends, die Kühle des Steins und den Klang einer Stimme, seiner Stimme, einer nunmehr verboten fremden Stimme verloren hatte, doch sich zugleich all jene Elemente in ihrem Bewußtsein schmerzlich nahe immer und immer wieder vor Augen führte, führen wollte, verursachte ihr ein körperliches Unwohlsein. Es ließ sie nicht mehr los, bis zu jener Minute, als sie das Flugzeug verließ und wieder festen, scheinbar vertrauten heimatlichen Boden unter den Füßen spürte. Schnell war sie in die Gepäckausgabe gelaufen, hatte ihren Koffer ehestmöglich vom Förderband gerissen, um noch eiliger in die Ankunftshalle zu stürzen, das Mobiltelefon von verkrampften Fingern umschlossen. Es läutete. Einmal. Zweimal. Dann die Stimme. Sie wechselten einige belanglose Sätze. Sie drehte sich hastig um. Ihr Freund, dem sie beim Aussteigen aus der Maschine davongeeilt war, kam in diesem Moment durch die Schiebetür, vorbei an den wartenden Eltern, Kindern, Freunden, Lebenspartnern. Sein Blick war wie versteinert, entgeistert, leblos, fassungslos. Er starrte sie an. Sie starrte zurück. Am anderen Ende der Leitung kurzes Schweigen. Dann kam ein »Gut, dann will ich nicht weiter stören! Hat mich gefreut, wieder von dir zu hören! Mach’s gut!« Sie starrte nach wie vor auf den verzerrten Gesichtsausdruck, auf das Kopfschütteln ihres Freundes, den sie in diesem Augenblick nicht wiedererkannte und auch gar nicht mehr kennen wollte. Das Freizeichen am anderen Ende der Leitung drang nicht zu ihr durch. Es kam aus einem Riß in der Zeit, den sie, das wurde ihr schlagartig bewußt, weder durch Worte, noch durch Taten jemals wieder würde schließen können. Mit einer mechanischen Bewegung steckte sie das Telefon zurück in die Handtasche und lächelte ihrem Freund zu. „Das waren meine Eltern“, sagte sie. „Sie freuen sich, dass wir gut angekommen sind.“ Dann berührte sie mit der Hand sanft seinen Nacken und sagte ihm, dass sie ihn liebte. Und möglicherweise war das in diesem Moment sogar die Wahrheit.