Sonntagsarabesken #24

Verschiedentlich geschehen kleine Wunder, deren Ursprung ganz und gar unerklärlich bleibt; für immer. Sie verursachen jenen plötzlichen Stich in uns, der an die Schönheit des Lebens erinnert, gleichzeitig jedoch schmerzt, weil in ihm auch alle Grenzen, Mauern und Abschrankungen enthalten sind, an die wir täglich, ja von Augenblick zu Augenblick, stoßen. Ein Katalog dieser Wunder läse sich banal, wäre vielleicht sogar ganz uninteressant; man müßte Dinge auflisten, die dem einen bemerkenswert, dem anderen reizlos erscheinen, man könnte es wahrscheinlich niemandem recht machen, und trotzdem sollte man es versuchen, denn der Aufwand lohnt: Morgensonne, sattes Gold bereits so früh, die über die Ziegeldächer fließt (obwohl das Licht nicht „fließt“ und Gold auch nur beschränkt, sofern man es verflüssigt); Kirschblüten am Straßenrand, teilweise als hauchdünner Teppich auf dem Asphalt ausgestreut, die Natur hat Hochzeit gefeiert, in der klaren Frühlingsluft, und die Musik kam aus hundert Vogelkehlen; ein nächtlicher Spaziergang in scharfer Kälte, der dem Verängstigten schlußendlich die Hoffnung wiedergibt, in den letzten Stunden, die ihm noch geblieben sind, es sind die wichtigsten für heute und wohl auch den Rest seiner Zeit in dieser schnell umschatteten Stadt, er kann nun leichter atmen, auch wenn sein Hals geschwollen und seine Stimme fast verschwunden ist; ein Autodach in der Wärme des Mittags, auf dem eine braun gefleckte Katze liegt, reglos und zufrieden, denn niemand stört die Schlafende, und sie läßt sich auch nicht stören, während weiter vorne Frühlingswind durch Palmen rauscht; Hagelgewitter am frühen Abend, die Eiskörner schwimmen wie exotische Schnecken in dem Kochtopf, den das verwunderte Mädchen über das Balkongitter gestreckt hat, um die weiße Pracht (von vielen für Schnee gehalten) aufzufangen, doch der Schatz ist bald geschmolzen (am nächsten Tag wird in dem Topf Butter unter Schokoladesauce gerührt); Gang durch das Botschaftsviertel, in aller Ruhe den eigenen Weg betrachtend und taxierend, denn vieles hier ist neu, noch ungesehen, die Häuserfronten schließen sich in grauer und gelber und roter Masse zu den Straßenfluchten, die auf der Karte verzeichnet sind, aber da ist noch viel mehr, da ragen Büsche und Zwergpinien hinter Gartenzäunen auf, Fenster werden geöffnet und Fahnen hängen schlaff von ihren Stangen, Autos fahren vor, Sirenen heulen und Frauen lachen, alles kommt so nah, dass es ein angenehmes Schaudern verursacht. – Das war freilich nur ein kleiner Auszug, der kurz die Gestalt des bereits angesprochenen Kataloges der Wunder und wunderbaren Szenen verdeutlichen soll, die dem Leben seinen lustvoll schmerzhaften Anstrich verleihen. Es werden wohl noch viele folgen…