November in Neapel. Ein milder Abend. Drei Freunde saßen auf der Terrasse eines Fischrestaurants beim Nachtisch. Der Sherry war vorzüglich. Gedämpft drang der Lärm des Hafens über die spiegelglatt liegenden Wellen zu ihnen herauf. Lucien trat gerade ins Freie, als Carlo von einem Mädchen zu erzählen begann, das er hier vor zwei Jahren verlassen hatte: Eine zarte, wie er sagte, und wunderbare und förmlich übermenschliche Geigerin aus dem Konservatorium. Ein sensibles, kompliziertes Wesen, meinte er, während Lucien sich setzte. Carlo nickte ihm nur kurz zu, im selben melancholisch gerührten Tonfall fortfahrend, der in D. eine ganz bestimmte Wunde berührte (er dachte an Martha, an die von Klaus und Lucien und vor allem ihm geliebte Martha). Das sensible, komplizierte, wunderbare Mädchen, so Carlo weiter, habe vor etwa einem Jahr versucht, sich umzubringen; dieser Versuch sei allerdings äußerst unweiblich ausgefallen, Carlos Gesicht verdüsterte sich, denn sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, sich der Länge nach die Unterarme geöffnet mit eigens angeschafften Rasierklingen. Die Kacheln des Badezimmers überzogen mit rosig rotem Wasser, das blutig über den Rand des Waschbeckens geschäumt war, so zeigten es Photos der Polizei, die er zu betrachten die Möglichkeit gehabt hatte. Er, Carlo, war damals in Lyon gewesen, und an dem Abend, frühsommerlich, an dem es passierte (an dem im fernen Neapel neu angeschaffter Stahl blitzte und draußen – vielleicht – eine Mülltonne umgeworfen wurde und eine Katze kreischend flüchtete und das warme Wasser über Mädchenarme, Unterarme und feingliedrige Hände, plätscherte, ruhig und beschaulich), an diesem Abend also saß Carlo mit Anzug und silbrig glänzender Krawatte im Konzertsaal und hörte Mozart. Er hörte, so sagte er (und Lucien hatte sich gesetzt, aber sein Gesicht wirkte verwirrt, seine Körperhaltung war die eines in den Sessel gleichsam Gestürzten), er hörte die Musik, und jetzt, ein Jahr später, wußte er in der Rückschau, dass ein wunderbares, kompliziertes, sensibles Mädchen in Neapel (wieviel Kilometer Luftlinie?) die letzten Geräusche zu hören glaubte. Als neu angeschaffter Stahl durch die obersten Hautschichten ritzte und das freilegte, wovor sie, die die Klinge führte, sich gefürchtet und worauf sie doch gleichzeitig so gehofft hatte, rotes Gewebe und Blut, so viel verwässertes Blut. Das Waschbecken, die Kacheln, alles bedeckt vom Schleier dieses schrecklich plätschernden Wassers. Und Blut. Bei diesem Gedanken, so Carlo, werde ihm heute noch schlecht. Er nippte an seinem Sherry. Die Runde blieb stumm. Der Alkohol schien ihn schließlich wieder zu beleben; er fuhr fort: Das Konzert in Lyon dauerte etwa zwei Stunden, ohne die Pause. Ja, ohne die Pause, wiederholte er bedächtig; die Pause begann gegen halb neun, und sie dauerte vielleicht zwanzig Minuten. Aus dem Polizeiprotokoll, in das er vor vier Monaten Einsicht genommen hatte (aus dem auch die Photos stammten), obwohl es schwierig war, derartige Dokumente zu Gesicht zu bekommen, wußte er, dass das Mädchen (dessen Namen er noch immer nicht genannt hatte, es schien unwichtig, und keiner von ihnen fragte) sich in den letzten zehn Minuten der ersten Konzerthälfte zum Sterben auf sein Bett gelegt hatte. Die Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein, sagte Carlo. Der grausame Gehalt des Satzes wurde jedoch durch keine Regung seiner Miene unterstrichen. Sie nahm zwei Valium. Carlo unterbrach kurz, er blickte sich um und suchte nach irgendeinem Ausdruck des Erstaunens bei seinen Zuhörern: Versteht ihr, ich stehe gerade auf, nach gutmütigem Applaus, in Lyon, nach Mozart, und sie liegt in Neapel auf ihrem Bett, das, wie sie hoffte, ihr Sterbebett sein sollte, sie ist fest überzeugt, dass sie stirbt, sie weiß es, und sie nimmt ein Schmerzmittel! Er verstummte. Gestorben im November.