Sonntagsarabesken #71

Verschiedentlich gibt es Anlässe, sich zu ärgern. Der Satyr, der in diesen Hallen sein Unwesen treibt, geht ihr mit seiner flüsternden, vor lüsterner Heiserkeit fast erstickten Stimme auf die Nerven. Die Zahl der von ihr geschriebenen Zeilen hat drei überschritten. Sie ist also auf dem besten Weg, diese Geschichte fertig zu erzählen. Worum dreht sich die Handlung? Es geht in erster Linie um Musik. Um die Musik einer schneelosen Nacht, um die Tonleiter des Winters in Wien, um den Wohlklang der Wortkaskaden zwischen den unversöhnlichen Polen Pinot und Cabernet. Drei, mittlerweile schon vier Zeilen, die eine ganze Harmonielehre verkörpern wollen. Sie denkt noch einmal nach. Ihre rationale Seite ist wieder kurz davor, die Oberhand zu gewinnen. Dann ließe sich nichts mehr ehrlich (also: mit Gefühl) schildern. Ihre Finger hasten über die Tastatur, auf der Flucht vor dem eigenen Verstand. Es ist eine kuriose Verfolgungsjagd. Sie wird gewinnen. Dieses eine Mal. Szenenwechsel. Die schönen Augenblicke schleichen sich monatelang im Schutze unseres Vergessens an. Nicht mehr mit ihnen rechnen und sie erleben bezeichnet oft ein und die selbe Sekunde. Einen Augenblick, in dem sich zwei Zeitströme überschneiden: Der Fluß der immer schwächer werdenden, eigentlich schon ersterbenden Erwartung und das Rinnsal euphorischen Zitterns. Solches geschah, als er ihr Bild vor sich sah. Ihre Stimme klang wie ein Echo in seinem Kopf. Der volle Ton einer Bronzeglocke. Vor einer Stunde hatten sie miteinander gesprochen. Das Telefon als Gefäß einer geheimnisvollen Freude, die sich bei Elenas ersten Worten als Schmerz in seinen Magen ergossen hatte und von dort den Weg in sein Gehirn suchte. Jetzt sah er sie an, ohne dass ihre toten Augen seine Blicke reflektieren konnten. Es war nur ein Photo. An den blassen Stein gelehnt stand sie da, in der Hüfte geknickt, die mädchenhafte Pose durch ihr hintergründiges Lächeln bösartig als reine Laszivität entlarvend. Elena hatte eine Begabung für derartige Auftritte. Er überlegte lange, ob ihr Körper oder der Marmor dahinter mehr Kälte auszustrahlen schien. Ihre halb geschlossenen Lider hatten etwas von einer Katze. Am meisten störte ihn aber der dunkle Fleck neben ihr. Es war wohl die Anwesenheit dieses Eindringlings, die es Elena unmöglich machte, ihren üblichen Zauber auf ihn auszuüben. Er fühlte sich unangenehm berührt und schob das Bild zwischen die Seiten eines vor ihm liegenden Buches. Seine Finger zitterten. Nichts war einfach in solchen Momenten. Nichts. Sein Gehirn hatte sich verflüssigt. Stromschlag. Sie erwacht aus dem Schlaf. Ein bizarrer Traum sitzt ihr im Genick. Mit einer schwerfälligen Bewegung streicht sie sich die Haare aus der Stirn. Die Wärme des Bettes scheint ihr gefährlich; zwischen den Laken lauert noch das kaum Vergessene. Sie schaltet die Nachttischlampe ein und steht auf. Dunkelheit vor dem Fenster. Es ist halb vier Uhr morgens. Sie schleicht in die Küche, unnötigerweise, denn sie ist allein in der Wohnung. Allein bis auf die Bilder in ihrem Kopf. Im Badezimmer füllt sie einen Becher mit Wasser, trinkt, sieht in den Spiegel. Wer bist du? Sie sieht, wie ihre Lippen die Worte formen. Stumm. Bin ich verrückt? fragt sie und spricht die Worte gleichzeitig aus. Halblaut. Sie erinnert sich: Elena. So heißt sie. Sie stellt den Becher zurück und hebt langsam den Zeigefinger. Bis auf Augenhöhe. Im Spiegelglas flackert das Zerrbild einer jungen Frau, die sich selbst anzuklagen scheint. Sie denkt an die andere, die sie nicht kennt, die sie nur durch seine Augen sehen kann, und lacht. Schnitt. Die Geschichte ist unterbrochen. Für diesen Tag zumindest. Die Melodien haben ihren Gleichklang verloren. Sie klappt den Monitor ihres Computers hinunter und starrt einen Augenblick lang vor sich hin. Elena. Das ist kein gewöhnlicher Name, denkt sie und kann ihn irgendwie verstehen. Wer würde sich nicht in einen solchen Namen verlieben? Wer könnte einem so exotischen Reiz schon widerstehen? Sie kommt sich ungeschickt und dumm vor. Kühler Verstand ist eine Tugend, heißt es oft; doch schon der Gedanke an drei einfache Silben läßt sie zornig werden. Verstand hat keine Temperatur, beschließt sie.