Wenn das grüne Abendlicht den Reiz der fernen Welten schlucken möchte und doch nicht durch das Fenster dringt, dann fühlt sich Rodrigo geborgen. Seine Hand ruht auf dem Einband des Tagebuches. Er hat sich hinter dem Schreibtisch vergraben, scheinbar in Arbeit, in Wahrheit jedoch ist es ein großer Gedankenhaufen, unter den er den Kopf gesteckt hat. Dazu spielt schneidige Marschmusik. Rodrigo träumt von einer besseren Gesellschaft. Er sehnt die Befreiung herbei. Er spielt mit den Idealen, Träumen und Illusionen. Seine Untätigkeit treibt ihn in die Besessenheit. Im Garten lodern die Fackeln, Flammen, deren Reflexe seinen Phantasien Nahrung geben. Der widerstandslose Lauf seines Lebens steht zu solchen angestrengten Sehnsüchten freilich in Widerspruch. Das Angefangene kommt stets wie durch Zauberhand zu einem glücklichen Ende, Rodrigos vornehme Herkunft und finanzielle Unabhängigkeit sind dafür ausschlaggebend, auch wenn er, der Lehnstuhlrevolutionär, sich diesen Zusammenhang nicht eingestehen will. Er betrachtet das Elend durch das Mikroskop des interessierten Forschers, aber immer aus der nötigen Distanz, die man, im Sinne der Hygiene und der Etikette, zu solchen Krankheitsherden und Abfallgruben haben soll. Seite um Seite füllt er mit sinnvollen Vorschlägen zur Abschaffung von Armut und sozialer Ungerechtigkeit; dazwischen schnuppert er gedankenverloren an sizilianischem Rotwein, dessen sattes Rot schöner als jede Utopie durch das geschliffene Kristall schimmert. Die Musik erfüllt das Zimmer mit ihrem Takt, der aus brutalen Peitschenschlägen geknüpft ist, und in der Stadt hinter dem samtig bekränzten Horizont brennen die Scheiterhaufen. Zerrissene Bücher und getretene Menschen flattern durch die Straßen, ein schreckliches Morden im Dienst der Freiheit hebt an, die Gerichte sind gefüllt mit Denunzianten, die Blutgerüste bevölkern sich mit dem graugesichtigen Volk der Verurteilten. Anklageschriften werden zerfetzt, und die schreckliche Mutter frißt ihre eigenen Kinder. Rodrigo hört und sieht nichts von diesem Terror. Er vergießt nicht Blut, sondern Tinte. Und zwischen Tee und Abendessen durchstreift er seine Rosengärten auf der Suche nach dem perfekten Duft. Dieses Leben gibt Rodrigo sicheren Boden für seine großen und edlen Projekte. Das Vorhersehbare und das Schöne sind dabei die wichtigsten Orientierungspunkte; zu gut erinnert er sich an das Taumeln der Erde, damals, kurz nach seiner Abreise in eine Neue Welt. Eine Suche nach dem Ende des Bekannten, nach dem Rand des Gewohnten. Vielversprechendes Wagnis. Doch das Schiff hatte noch kaum den Hafen verlassen, da beschlich Rodrigo bereits das Gefühl, die alte Stadt und das Zentrum der Existenz seien aus seinem eigenen Fleisch herausgeschnitten worden, er kauerte sich in seiner Trauer zusammen und wartete auf bessere Tage, die nicht kommen sollten. Seit diesem Zeitpunkt vermeidet er Gefühle der Entfremdung. Die Musik verklingt. Er lauscht auf das leise Summen des nächtlich belebten Gartenlabyrinths. Maskenspiele der Dämmerung haben begonnen. Kurz denkt er an den Brief, den er vormittags erhalten hat: „… Es grüßt Euch mit der verzweifelten Bitte um Hilfe Euer ergebenster Diener Marullo. Ich flehe Euch an – beendet dieses Gemetzel!“ – Das Gewicht des Gedankenhaufens liegt jetzt wieder mit ganzer Macht auf seinen Schultern, schraubt sich unerbittlich um seine Schläfen. Rodrigo atmet tief durch. Er nimmt einen Schluck Wein, erhebt sich, öffnet das Fenster. Die Abendluft ist angenehm mild. Die ganze Wiese scheint zu singen und zu vibrieren, im Flackerlicht der Feuertulpen. Er sollte etwas tun. Vielleicht morgen. Morgen.